Schwarzer Schmetterling
in fünf Kilometer Entfernung.
Gaspard Ferrand öffnete beim ersten Läuten. Er wirkte verdutzt und in höchstem Grade neugierig.
»Gibt es was Neues?«
»Ich würde mir gern das Zimmer von Alice noch einmal ansehen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
Ferrand warf ihm einen fragenden Blick zu. Er trug einen Morgenrock über einem Pullover und einer alten Jeans. Seine bloßen Füße steckten in Pantoffeln. Er zeigte auf die Treppe. Servaz dankte ihm und stieg rasch die Stufen hinauf. Im Zimmer steuerte er geradewegs auf die Ablageplatte über dem orangefarbenen kleinen Schreibtisch zu.
Der Kassettenrekorder.
Dieses Gerät hatte weder ein Radio noch einen CD -Spieler, im Unterschied zur Stereoanlage auf dem Boden; es war ein uralter Kassettenrekorder, den Alice irgendwo aufgetrieben haben musste.
Aber Servaz hatte bei seinem ersten Besuch keine Kassetten gesehen. Er wog ihn mit der Hand ab. Nicht ungewöhnlich schwer – aber das wollte nichts sagen. Wieder zog er sämtliche Schubladen des Schreibtischs und der Nachttische auf, eine nach der anderen. Keine Kassetten. Nirgends. Hatte es vielleicht irgendwann einmal welche gegeben, und hatte Alice sie weggeworfen, als sie zu CDs übergegangen war?
Aber warum hatte sie dann diesen sperrigen Apparat behalten? Alles in Alices Zimmer verwies auf die neunziger Jahre, die Poster, CDs, der Gameboy und die Farben …
Ein einziger Anachronismus: der Rekorder …
Servaz packte ihn an dem Griff, der sich auf der Oberseite befand, und prüfte ihn eingehend. Dann drückte er die Auswurftaste des Kassettenfachs. Leer. Er ging hinunter ins Erdgeschoss. Aus dem Wohnzimmer waren Geräusche eines eingeschalteten Fernsehers zu hören. Eine spätabendliche Kultursendung.
»Ich bräuchte einen kleinen Schraubenzieher mit Kreuzschlitz«, sagte Servaz in der Tür. »Haben Sie so was?«
Ferrand saß auf dem Sofa. Diesmal warf ihm der Philologe einen bohrenden Blick zu.
»Was haben Sie entdeckt?«
Seine Stimme war gebieterisch, ungeduldig. Er wollte es wissen.
»Nichts, absolut nichts«, antwortete Servaz. »Aber wenn ich etwas finde, sage ich es Ihnen.«
Ferrand stand auf und ging aus dem Zimmer. Eine Minute später war er mit einem Schraubenzieher zurück. Servaz stieg wieder hinauf ins Dachgeschoss. Die drei Schrauben ließen sich mühelos herausdrehen.
Als wären sie von einer Kinderhand angezogen worden …
Atemlos nahm er die vordere Gehäusewand ab.
Bingo …
Dieses Mädchen war ein Genie. Aus einem Teil des Geräts waren sorgfältig die elektronischen Bauteile entfernt worden. Mit einem breiten Streifen braunem Klebeband waren drei kleine Notizbücher mit blauem Umschlag an dem Kunststoffgehäuse befestigt.
Servaz betrachtete sie eine ganze Weile wie gelähmt. Träumte er auch nicht?
Alices Tagebuch …
All die Jahre war es hier versteckt gewesen, von allen unbemerkt. Was für ein glücklicher Zufall, dass Gaspard Ferrand das Zimmer seiner Tochter all die Jahre unverändert gelassen hatte. Äußerst vorsichtig entfernte er das Klebeband, das ausgetrocknet und schrumpelig geworden war, und nahm die Notizhefte aus dem Gerät.
»Was ist das?«, sagte eine Stimme hinter ihm.
Servaz wandte sich um. Ferrand starrte die Notizbücher an. Seine Augen blitzten wie die eines Raubvogels. Er platzte förmlich vor Neugier. Der Polizist schlug das erste Heft auf und warf einen Blick hinein. Er las die ersten Wörter. Sein Herz hämmerte:
Samstag, 12. August … Ich hatte also recht …
»Sieht nach einem Tagebuch aus.«
»Waren die dadrin?«, sagte Ferrand ungläubig. »Die ganzen Jahre über waren die dadrin?!«
Servaz nickte. Er sah, wie sich die Augen des Lehrers mit Tränen füllten und sein Gesicht sich zu einer Grimasse der Verzweiflung und des Kummers verzog. Servaz fühlte sich plötzlich sehr unwohl.
»Ich muss sie auswerten«, sagte er. »Vielleicht findet sich auf diesen Seiten die Erklärung für ihre Tat, wer weiß. Danach gebe ich sie Ihnen zurück.«
»Sie haben es geschafft«, murmelte Ferrand mit tonloser Stimme. »Ihnen ist gelungen, woran wir alle gescheitert sind … Das ist unglaublich … Wie … wie sind Sie darauf gekommen?«
»Noch nicht«, versuchte Servaz, seinen Überschwang zu zügeln. »Es ist noch zu früh.«
22
E s war fast acht Uhr morgens, und der Himmel schimmerte fahl über den Bergen, als er mit der Lektüre zu Ende war. Er klappte die Notizbücher zu, trat hinaus auf den Balkon und atmete die frische, kalte Morgenluft
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