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Schwarzer Schmetterling

Schwarzer Schmetterling

Titel: Schwarzer Schmetterling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
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Geschöpfe, die jedoch auch erschreckend gleichgültig sind: Wenn einer von ihnen vor den Augen der anderen ertrinkt, leistet ihm niemand Hilfe.«
    Diane hörte ihm nur mit einem Ohr zu, mit dem anderen versuchte sie, ein Zeichen menschlichen Lebens aufzufangen – und sich in diesem Labyrinth zurechtzufinden.
    »Als die Nacht hereinbricht, entdeckt der Erzähler eine weitere, noch erschreckendere Wirklichkeit: Die Eloi sind nicht allein. Unter der Erde lebt eine zweite Menschenrasse: die hässlichen, furchterregenden Morlocks. Aufgrund der Habgier ihrer Herren haben sie sich nach und nach immer weiter von den oberen Klassen entfernt, bis sie zu einer eigenen Rasse wurden, deren Hässlichkeit das Spiegelbild zur Anmut der Eloi ist und die in unterirdische Stollen und Schächte verbannt sind. Sie sind dem Tageslicht derart entwöhnt, dass sie erst nach Einbruch der Dunkelheit aus ihren Erdhöhlen kriechen. Und deshalb verlassen die Eloi bei Sonnenuntergang fluchtartig ihre idyllische Landschaft, um sich in ihren verfallenen Schlössern zu sammeln. Denn um zu überleben, sind die Morlocks zu Kannibalen geworden …«
    Das Geschwätz des Psychiaters begann, ihr auf die Nerven zu gehen. Worauf wollte er hinaus? Ganz offensichtlich hörte sich der Mann gern reden.
    »Ist das nicht eine recht genaue Beschreibung unserer Gesellschaften, Mademoiselle Berg? Auf der einen Seite die Eloi, deren Intelligenz und Willenskraft in dem sorglosen Wohlleben geschwunden sind, während ihr Egoismus und ihre Gleichgültigkeit zugenommen haben. Auf der anderen Seite die Triebtäter, die ihnen eine alte Lektion erteilen: die Lektion der Angst. Sie und ich, Mademoiselle Berg, wir sind Eloi … und unsere Insassen sind Morlocks.«
    »Ist das nicht eine etwas grob vereinfachende Sichtweise?«
    Er tat so, als hätte er ihre Bemerkung nicht gehört.
    »Kennen Sie die Moral dieser Geschichte? Denn selbstverständlich hat sie eine: Wells war der Meinung, die Schwächung der Intelligenz sei eine natürliche Folge des … Verschwindens der Gefahr. Ein Tier, das in vollkommenem Einklang mit seiner Umwelt lebt, ist für ihn nur eine Art Maschine. Die Natur greift nur dann auf die Intelligenz zurück, wenn Gewohnheit und Instinkt nicht ausreichen. Die Intelligenz entwickelt sich nur dort, wo es Veränderung
und Gefahr
gibt.«
    Er sah sie lange an, mit einem breiten Lächeln im Gesicht.
    »Könnten Sie mir etwas über das Personal erzählen?«, sagte sie. »Wir sind bislang kaum jemandem begegnet. Ist hier denn alles automatisiert?«
    »Wir beschäftigen etwa dreißig Pflegehelfer. Außerdem sechs Krankenpfleger, einen Arzt, einen Sexualwissenschaftler, einen Küchenchef, sieben Küchenhilfen und neun Reinigungskräfte – alle halbtags, die Budgetkürzungen zwingen uns dazu, abgesehen von drei Pflegehelfern im Nachtdienst, der Pflegedienstleiterin, dem Koch … und mir selbst. Wir übernachten hier also zu sechst. Hinzu kommen die Wachleute, die, wie ich hoffe, nicht schlafen.« Er lachte kurz und trocken. »Mit Ihnen wären wir dann sieben«, schloss er mit einem Lächeln.
    »Sechs für … achtundachtzig Patienten?«
    Wie viele Wachleute?,
fragte sie sich sofort. Sie dachte an dieses riesige Gebäude, das nachts die meisten Mitarbeiter verließen und in dem achtundachtzig gefährliche Geisteskranke am Ende menschenleerer Gänge eingesperrt waren, und ein Schauder überlief sie.
    Xavier schien ihr Unbehagen zu spüren. Er lächelte breiter, während sein Blick, der schwarz glänzte wie eine Erdöllache, sie umfing.
    »Ich habe Ihnen doch gesagt, die Sicherheitssysteme sind nicht nur zahlreich, sondern auch redundant. Seit der Gründung des Institut Wargnier gab es keinen einzigen Ausbruch, ja nicht einmal einen nennenswerten Zwischenfall.«
    »Welche Medikamente setzen Sie ein?«
    »Substanzen gegen Zwangsstörungen haben sich als wirksamer erwiesen als die klassischen Substanzen, wie Sie wissen. Unsere Basistherapie besteht darin, ein synthetisches Hormonanalogon vom Typ GnRH mit einem SSRI -Antidepressivum zu kombinieren. Diese Substanzen wirken direkt auf die Produktion von Hormonen ein, die mit der sexuellen Aktivität verbunden sind, und sie dämpfen zwanghafte Impulse. Bei den sieben Insassen von Abteilung A sind diese Medikamente allerdings völlig wirkungslos …«
    Sie hatten gerade eine große Halle betreten und standen am Fuß einer Treppe, deren durchbrochene Stufen den Blick freigaben auf eine Mauer aus unbehauenem Stein. Diane

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