Schwarzer Schmetterling
vermutete, dass es sich um die sehr massive Mauer handelte, die sie bei ihrer Ankunft gesehen hatte; wie bei einem Gefängnis waren darin Reihen kleiner Fenster eingesetzt. Steinmauern, Betontreppe und -boden: Diane fragte sich, welchen Zweck dieses Gebäude ursprünglich gehabt hatte. Immerhin ging eine große Fensterfront auf die Berge, die allmählich von der Nacht verschlungen wurden. Die frühe Dunkelheit hinter der Scheibe verwunderte sie. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie schnell die Zeit vergangen war. Plötzlich gewahrte Diane einen stummen Schattenriss neben sich – und musste vor Überraschung schlucken.
»Mademoiselle Berg, darf ich Ihnen die Leiterin unseres Pflegediensts vorstellen, Elisabeth Ferney? Wie geht es unseren ›Champions‹ heute Abend, Lisa?«
»Sie sind ein bisschen nervös. Ich weiß nicht, wie sie es angestellt haben, aber sie wissen schon Bescheid über das, was sich im Kraftwerk ereignet hat.«
Eine kalte, autoritäre Stimme. Die Pflegedienstleiterin war eine hochgewachsene Frau um die vierzig mit ein wenig strengen, aber nicht unangenehmen Gesichtszügen. Kastanienbraunes Haar, eine überlegene Miene und ein direkter, aber defensiver Blick. Als Diane den letzten Satz hörte, erinnerte sie sich an die Straßensperre.
»Ich wurde auf der Fahrt hierher von der Gendarmerie angehalten«, sagte sie. »Was ist passiert?«
Xavier machte sich nicht einmal die Mühe, zu antworten. Diane schien mit einem Mal völlig unwichtig geworden zu sein. Lisa Ferney richtete kurz ihre braunen Augen auf sie, ehe sie sich wieder auf den Psychiater hefteten.
»Sie wollen ihr heute Abend doch nicht etwa Station A zeigen?«
»Mademoiselle Berg ist unsere neue …
Psychologin,
Lisa. Sie ist für eine ganze Weile hier. Sie hat unbeschränkten Zutritt in alle Bereiche.«
Wieder musterte die Pflegedienstleiterin sie eingehend.
»Dann werden wir uns wohl häufiger sehen«, äußerte Lisa Ferney, während sie bereits die Stufen hinaufstieg.
Die Betontreppe führte zu einer weiteren Tür im obersten Stock des Gebäudes. Diese bestand nicht aus Glas, sondern aus massivem Stahl, und sie war mit einem kleinen, rechteckigen Sichtfenster versehen. Durch das Fenster hindurch erblickte Diane eine zweite Tür, die genau gleich aussah. Eine Schleusenkammer – wie man sie auch auf U-Booten oder im Untergeschoss von Banken findet. Über dem stählernen Türstock war eine Kamera auf sie gerichtet.
»Guten Abend, Lucas«, sagte Xavier, während er zum Objektiv aufsah. »Machst du uns auf?«
Ein Lämpchen sprang von Rot auf Grün, und Xavier zog die schwere, gepanzerte Tür auf. Sobald sie drin waren, warteten sie schweigend, bis die Tür wieder verriegelt war. In diesem engen Gelass roch Diane durch den Geruch nach Stein und Stahl hindurch das Parfüm der neben ihr stehenden Pflegedienstleiterin. Plötzlich ließ sie ein langer Schrei, der durch die zweite Tür ertönte, zusammenzucken. Es dauerte lange, bis der Schrei verstummte.
»Bei den sieben Insassen von Abteilung A«, sagte Xavier, der den Schrei nicht bemerkt zu haben schien, »wenden wir, wie schon gesagt, eine besondere Form der Aversionstherapie an. Eine Art ›Dressur‹.« Er gebrauchte dieses Wort zum zweiten Mal, und Diane fuhr wieder zusammen. »Ich sage es noch einmal: Diese Personen sind hochgradige Soziopathen: kein Schuldgefühl, keine Empathie, keine Aussicht auf Heilung. Abgesehen von dieser Dressur begnügen wir uns mit einer Minimaltherapie, kontrollieren etwa regelmäßig den Serotoninspiegel: Ein zu niedriger Serotoninspiegel im Blut ist mit Impulsivität und Gewalttätigkeit assoziiert. Ansonsten geht es darum, ihnen keine Gelegenheit zu Gewalttaten zu geben. Diese Bestien fürchten sich vor nichts. Sie wissen, dass sie bis an ihr Lebensende hier eingesperrt bleiben. Keine Drohung, keine Sanktion berührt sie.«
Ein Signal ertönte, und Xavier legte seine manikürten Finger auf die zweite Panzertür.
» WILLKOMMEN IN DER HÖLLE , MADEMOISELLE BERG . Aber nicht heute Abend. Nein, nicht heute Abend, Lisa hat recht. Heute Abend geh ich allein hinein. Lisa wird Sie zurückbegleiten.«
SERVAZ STARRTE DEN ZWEITEN WACHMANN AN :
»Du hast also nichts gehört?«
»Nein.«
»Weil das Fernsehen lief?«
»Oder das Radio«, antwortete der Mann. »Wenn wir nicht fernsehen, hören wir Radio.«
»Volle Lautstärke?«
»Ziemlich laut, ja.«
»Und was habt ihr euch gestern Abend angeschaut oder angehört?«
Der Wachmann seufzte. Erst die
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