Schwarzer Schmetterling
roch seinen üblen Mundgeruch – und seine Angst. »Die Schauspieler verbringen ihre Zeit ja nicht damit, Schreie auszustoßen und sich die Kehle durchschneiden zu lassen, oder? Und wie lange braucht die Seilbahn für die Auffahrt? Fünfzehn Minuten? Zwanzig? Das Gleiche für die Talfahrt. Verstehst du, worauf ich hinauswill? Das wäre ein absolut gottverdammter Zufall, wenn der Lärm der Seilbahn voll und ganz in den Geräuschen des Films untergegangen wäre, oder nicht? Was meinst du?«
Der Wachmann blickte ihn wie ein gehetztes Tier an.
»Keine Ahnung«, sagte er. »Vielleicht war es vor … oder während des Fußballspiels … Jedenfalls haben wir nichts gehört.«
»Habt ihr diese DVD noch?«
»Äh … ja …«
»Wunderbar, dann werden wir eine kleine Rekonstruktion vornehmen, um zu überprüfen, ob es technisch möglich ist, dass eure kleine, ganz private Vorführung diesen Lärm vollständig überdeckt hat. Und wir werden es auch mit einem Fußballspiel ausprobieren. Und sogar mit einem Porno, hörst du – wir wollen den Dingen schließlich auf den Grund gehen.«
Servaz sah, dass dem Wachmann der Schweiß auf der Stirn stand.
»Wir hatten ein bisschen getrunken«, äußerte er so leise, dass Servaz ihn bitten musste, es noch einmal zu sagen.
»Wie bitte?«
»Wir hatten getrunken …«
»Viel?«
»Nicht wenig.«
Der Wachmann hob die Hände, die Innenseite nach oben.
»Hören Sie … Sie können sich nicht vorstellen, wie die Winternächte hier sind, Commissaire. Haben Sie sich mal die Umgebung angeschaut? Wenn es dunkel wird, hat man praktisch das Gefühl, man wäre allein auf der Welt. Es ist, als … als wäre man irgendwo im Nichts … auf einer verlassenen Insel, verstehen Sie? … Eine Insel, die verloren in einem Meer aus Schnee und Eis liegt«, fügte er mit einem erstaunlichen lyrischen Überschwang hinzu. »Im Kraftwerk interessiert sich kein Schwein dafür, was wir hier nachts tun. Für die sind wir unsichtbar, Luft. Sie wollen nur, dass niemand die Anlage sabotiert.«
»Commandant, nicht Commissaire. Trotzdem ist es immerhin jemandem gelungen, hier raufzufahren, das Tor aufzubrechen, die Seilbahn in Gang zu setzen und ein totes Pferd in die Kabine zu schaffen«, sagte Servaz geduldig. »Das dauert alles seine Zeit. Das muss man doch bemerken.«
»Wir hatten die Rollläden runtergelassen. Gestern Nacht hat es gestürmt. Und die Heizung funktioniert nicht richtig. Also verkriechen wir uns, trinken einen, um uns aufzuwärmen, und wir drehen den Fernseher oder die Musik bis zum Anschlag auf, damit wir den Wind nicht hören. Kann gut sein, dass wir, zugedröhnt, wie wir waren, die Geräusche für das Toben des Sturms gehalten haben. Wir haben unseren Job nicht erledigt, das stimmt – aber das mit dem Pferd, das waren wir nicht.«
Ein Punkt für ihn, sagte sich Servaz. Er konnte sich sehr gut vorstellen, was ein Sturm hier oben bedeutete. Windstöße, Schnee, alte, leerstehende, zugige Gebäude, quietschende Fensterläden und Türen … Eine instinktive Angst – wie sie auch die ersten Menschen angesichts der entfesselten Raserei der Elemente überkam. Selbst zwei harte Burschen waren nicht dagegen gefeit.
Er zögerte. Die Versionen der beiden Männer deckten sich. Trotzdem glaubte er ihnen nicht. Wie er das Problem auch drehte und wendete – einer Sache war sich Servaz sicher:
Sie logen.
»Und?«
»Ihre Aussagen stimmen überein.«
»Ja.«
»Ein bisschen zu genau.«
»Das ist auch meine Meinung.«
Maillard, Ziegler und er waren in einem kleinen, fensterlosen Raum zusammengekommen, der nur von einer fahlen Neonröhre beleuchtet wurde. Auf einem Plakat an der Wand stand: »Arbeitsmedizin, Prävention und Bewertung beruflicher Gesundheitsrisiken« mit Verhaltensregeln und einer Telefonnummer. Den beiden Gendarmen war die Erschöpfung anzusehen. Servaz wusste, dass es bei ihm genauso war. Um diese Uhrzeit und an diesem Ort war ihm, als wäre er am Ende von allem angekommen: am Ende der Müdigkeit, am Ende der Welt und am Ende der Nacht …
Jemand hatte volle Kaffeebecher gebracht. Servaz sah auf seine Uhr: 5 : 32 Uhr. Der Direktor des Kraftwerks war vor zwei Stunden mit grauem Gesicht und roten Augen nach Hause gefahren, nachdem er sich von allen verabschiedet hatte. Servaz runzelte die Stirn, als er Irène Ziegler an einem kleinen tragbaren Rechner herumtippen sah. Trotz der Müdigkeit konzentrierte sie sich auf ihren Bericht.
»Sie müssen sich
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