Schwarzer Schmetterling
der Älteste?«
»Mhm!«, sagte der Mann.
»Wie lange arbeiten Sie schon hier?«
»Oben oder unten?«
»Oben und unten.«
»Dreiundzwanzig Jahre oben. Zweiundvierzig insgesamt.«
Eine flache, monotone Stimme, die sich gleichförmig hinzog wie ein Gebirgssee.
»Und wie heißen Sie?«
»Was geht das dich an?«
»Die Fragen stelle hier ich, okay? Also, wie heißt du?« Servaz reagierte auf das »Du« mit einem »Du«.
»Tarrieu«, versetzte der Mann gekränkt.
»Wie alt bist du?«
» Dreiundsechzig .«
»Wie ist das Verhältnis zur Geschäftsführung? Ihr könnt ganz offen reden: Alles, was ihr sagt, bleibt unter uns. Ich habe vorhin in der Toilette ein Graffito gesehen, das lautete: ›Der Direktor ist ein Scheißkerl.‹«
Tarrieu zog ein halb verächtliches, halb erheitertes Gesicht.
»Das stimmt auch. Aber wenn es um Rache ginge, hätte doch er da oben hängen müssen. Nicht dieses Pferd. Meinst du nicht,
Monsieur le Commandant?
«
»Wer redet hier von Rache?«, erwiderte Servaz im gleichen Ton. »Willst du an meiner Stelle ermitteln? Willst du Polizist werden?«
Einige lachten höhnisch. Servaz sah Tarrieus Gesicht knallrot anlaufen, wie wenn sich ein Tropfen roter Tinte im Wasser auflöst. Ganz offensichtlich konnte dieser Mann handgreiflich werden. Aber in welchem Ausmaß? Das war die ewige Frage. Tarrieu öffnete den Mund, um zu antworten – überlegte es sich dann im letzten Moment aber anders.
»Nein«, sagte er endlich.
»Kennt einer von Ihnen das Gestüt?«
Verlegen hob der Koch mit den Ohrringen die Hand.
»Wie heißen Sie?«
»Marousset.«
»Reiten Sie, Marousset?«
Tarrieu lachte glucksend in seinem Rücken, und die anderen taten es ihm gleich. Servaz spürte, wie ihn die Wut überkam.
»Nein … ich bin der Koch … Hin und wieder geh ich dem Küchenchef von Monsieur Lombard zur Hand … im Schloss … bei Festen … Geburtstagen … am 14 . Juli … Das Gestüt ist gleich nebenan …«
Marousset hatte große, helle Augen mit Pupillen, die so groß waren wie Stecknadelköpfe. Und er schwitzte stark.
»Hatten Sie dieses Pferd schon mal gesehen?«
»Ich interessier mich nicht für Pferde. Vielleicht … da … gibt es jede Menge Pferde …«
»Und Monsieur Lombard, sehen Sie den oft?«
Marousset schüttelte den Kopf.
»Ich bin da nur ein- oder zweimal im Jahr … und ich verlasse die Küche praktisch nie …«
»Aber trotzdem bekommen Sie ihn hin und wieder zu Gesicht, oder?«
»Ja.«
»Kommt er manchmal ins Kraftwerk?«
»Lombard, hier?«, äußerte Tarrieu sarkastisch. »Dieses Werk ist für Lombard völlig nebensächlich. Überprüfst du jeden Grashalm, wenn du deinen Rasen mähst?«
Servaz wandte sich den anderen zu. Sie bestätigten das, was Tarrieu gesagt hatte, durch ein leichtes Kopfnicken.
»Lombard lebt woanders«, fuhr Tarrieu im gleichen provozierenden Ton fort. »In Paris, in New York, auf den Antillen, auf Korsika … Und dieses Werk ist ihm völlig wurscht. Er behält es, weil sein alter Herr in seinem Testament geschrieben hat, dass er es behalten soll. Aber er hat absolut nichts damit am Hut.«
Servaz nickte. Er hatte Lust, etwas Bissiges zu antworten. Aber wozu? Vielleicht hatte Tarrieu seine Gründe. Vielleicht hatte er schon einmal mit korrupten oder unfähigen Polizisten zu tun gehabt. Die Menschen sind Eisberge, dachte er. Unter der Oberfläche gab es eine riesige Menge von Unausgesprochenem, von Wunden und Geheimnissen. Niemand ist wirklich das, was er zu sein scheint.
»Soll ich dir einen Rat geben?«, sagte Tarrieu plötzlich.
Servaz erstarrte, er war auf der Hut. Aber der Tonfall war jetzt ein anderer: nicht mehr feindselig, auch nicht argwöhnisch oder sarkastisch.
»Ich höre.«
»Die Wachleute«, sagte der altgediente Mitarbeiter. »Statt deine Zeit mit uns zu verlieren, solltest du die Wachleute befragen. Nimm sie ein bisschen ran.«
Servaz fasste ihn scharf ins Auge.
»Warum?«
Tarrieu zuckte mit den Schultern.
»Der Polizist bist du«, sagte er.
Servaz folgte dem Korridor und ging durch die Flügeltüren, und nach der überhitzten Atmosphäre eben war es in der Eingangshalle plötzlich eiskalt. Draußen zuckten Blitzlichter, die die Halle mit kurzen Lichtschauern und großen, unheimlichen Schatten erfüllten. Servaz erblickte Cathy d’Humières, die in ihren Wagen stieg. Es wurde dunkel.
»Und?«, fragte Ziegler.
»Die Männer haben vermutlich nichts damit zu tun, aber über zwei von ihnen hätte ich gern
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