Schwarzer Schmetterling
er, wie die Finsternis in den Gassen allmählich einer leuchtenden Morgenröte wich. Um neun Uhr morgens war der Himmel über den Bergen so transparent und leuchtend wie eine Kristallkuppel. Dort oben, in zweitausendfünfhundert Meter Höhe, traten die Gletscher aus dem Schatten und funkelten in der Sonne, die jedoch noch verborgen blieb. Direkt vor ihm lag die Altstadt, das historische Zentrum. Linker Hand, jenseits des Flusses, erstreckten sich die Wohnblocks mit Sozialwohnungen. Auf der anderen Seite des großen Kessels, zwei Kilometer von hier, erhob sich wie eine Welle der bewaldete hohe Berghang, in den die lange Schneise der Seilbahnen einschnitt. Von seinem Aussichtspunkt aus sah Servaz, wie Gestalten auf dem Weg zur Arbeit durch die Gassen der Altstadt schlichen, er sah die Scheinwerfer von Lieferwagen, Jugendliche auf knatternden Motorrollern, unterwegs zu den Schulen der Stadt, Einzelhändler, die die Eisengitter vor ihren Läden hochschoben. Er zitterte. Nicht wegen der Kälte – sondern weil er an das Pferd denken musste, das an der Bergstation der Seilbahn gehangen hatte, und an den- oder diejenigen, die das getan hatten.
Er beugte sich über das Geländer. Irène Ziegler erwartete ihn unten, sie lehnte an ihrem Dienstwagen, einem Peugeot 306 . Ihre Uniform hatte sie gegen einen Rollkragenpullover und eine Lederjacke eingetauscht. Sie rauchte eine Zigarette und trug eine Umhängetasche.
Servaz stieß zu ihr und lud sie zu einem Kaffee ein. Er hatte Hunger, und bevor sie losfuhren, wollte er etwas essen. Sie sah auf ihre Uhr, zog ein schiefes Gesicht und löste sich schließlich von dem Wagen, um ihm nach innen zu folgen. Das »Russell« war in den 1930 er Jahren gebaut worden, die Zimmer waren schlecht geheizt, die Gänge endlos lang und schummrig, und ihre hohen Decken waren mit Stuck verziert. Aber der Speisesaal, eine weitläufige Veranda mit hübschen, blumengeschmückten Tischen, bot einen atemberaubenden Ausblick. Servaz setzte sich an einen Tisch nahe der Fensterfront und bestellte einen schwarzen Kaffee und ein Butterbrot, Ziegler frischen Orangensaft. Am Nachbartisch plauderten spanische Touristen – die ersten der Saison – munter drauflos, und sie garnierten ihre Sätze mit sehr männlichen Wörtern.
Als er den Kopf umwandte, fiel ihm ein Detail auf, das ihn nachdenklich stimmte: Irène Ziegler war nicht nur in Zivil, sie trug an diesem Morgen an ihrem linken Nasenloch auch einen schmalen Silberring, der in dem Licht, das durch das Fenster fiel, funkelte. Ein solches Schmuckstück erwartete er eher im Gesicht seiner Tochter – nicht bei einer Gendarmeriebeamtin. Die Zeiten ändern sich, sagte er sich.
»Gut geschlafen?«, fragte er.
»Nein. Ich hab irgendwann eine halbe Schlaftablette genommen. Und Sie?«
»Ich hab den Wecker nicht gehört. Wenigstens ist das Hotel ruhig; es sind noch nicht viele Touristen da.«
»Die meisten kommen erst in zwei Wochen. Zu dieser Zeit ist es immer ruhig.«
»Führt die Seilbahn zu einer Skistation?«, fragte Servaz und zeigte auf die doppelreihigen Stützmasten auf dem Berghang gegenüber.
»Ja, Saint-Martin 2000 . Achtundzwanzig Pisten mit einer Gesamtlänge von vierzig Kilometern, darunter sechs schwarze, vier mit Sesselliften, zehn mit Schleppliften. Aber sie haben auch den Wintersportpark Peyragudes, fünfzehn Kilometer von hier. Fahren Sie Ski?«
Servaz grinste schelmisch.
»Mit vierzehn habe ich zum letzten Mal auf Skiern gestanden. Ich habe keine sehr guten Erinnerungen daran. Ich bin nicht …
sehr sportlich
…«
»Dabei sehen Sie ziemlich fit aus«, sagte Ziegler lächelnd.
»Genau wie Sie.«
Merkwürdigerweise wurde sie auf diese Bemerkung hin rot. Das Gespräch zwischen ihnen verlief zäh. Am Vortag waren sie zwei Polizisten gewesen, die auf denselben Fall angesetzt wurden und sachliche Beobachtungen austauschten. Heute Morgen versuchten sie unbeholfen, sich etwas näher kennenzulernen.
»Darf ich Sie etwas fragen?«
Er nickte.
»Gestern haben Sie ergänzende Ermittlungen über drei Arbeiter gefordert. Warum?«
Der Ober kam mit ihrer Bestellung zurück. Er wirkte genauso alt und trist wie das Hotel selbst. Servaz wartete, bis er gegangen war, ehe er von seiner Vernehmung der fünf Männer erzählte.
»Dieser Tarrieu«, sagte sie. »Wie wirkt er auf Sie?«
Servaz sah das flache, grobe Gesicht und den kalten Blick des Mannes im Geist noch einmal vor sich.
»Ein intelligenter Mann, aber voller Wut.«
»Intelligent.
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