Schwarzer Schmetterling
schließen wir einstweilen keine aus. Gibt es in der Gegend ein passables Hotel?«
»Es gibt über fünfzehn Hotels in Saint-Martin«, antwortete Maillard. »Es kommt ganz darauf an, was Sie suchen. Aber ich an Ihrer Stelle würde das Le Russell ausprobieren.«
Servaz speicherte die Information ab, während er wieder an die Wachleute, ihr Schweigen und ihre Verlegenheit dachte.
»Diese Typen haben Angst«, sagte er plötzlich.
»Wer?«
»Die Wachleute: Etwas oder jemand hat ihnen Angst eingejagt.«
6
D as Klingeln des Handys ließ Servaz aus dem Schlaf auffahren. Er sah auf die Uhr des Radioweckers: 8 : 37 Uhr.
Verdammt!
Er hatte das Läuten des Weckers nicht gehört, er hätte die Chefin des Hotels bitten sollen, ihn zu wecken. In zwanzig Minuten würde ihn Irène Ziegler abholen. Er griff nach dem Telefon.
»Servaz.«
»Wie ist es denn oben gelaufen?«
Die Stimme von Espérandieu … Wie immer war sein Stellvertreter vor allen anderen im Büro. Servaz stellte sich vor, dass er gerade dabei war, einen japanischen Comic zu lesen oder neue Anwendungsprogramme der Polizei zu testen, eine vorwitzige Strähne in der Stirn, mit einem topmodischen Markenpullover, den seine Frau für ihn ausgesucht hatte.
»Schwer zu sagen«, antwortete er, während er Richtung Bad ging. »Sagen wir, dass mir so etwas noch nicht untergekommen ist.«
»Verdammt, ich hätte das gern gesehen.«
»Du wirst es auf dem Video sehen.«
»Und was ist es?«
»Ein Pferd, das an der Bergstation einer Seilbahn aufgehängt wurde, in einer Höhe von zweitausend Metern«, antwortete Servaz und regulierte mit der freien Hand die Temperatur der Dusche.
Das Schweigen am anderen Ende der Leitung zog sich in die Länge.
»Wow«, sagte Espérandieu schließlich knapp, während er ganz nah am Mikrophon irgendetwas trank.
Servaz hätte gewettet, dass es sich nicht um einen einfachen Kaffee, sondern um etwas Sprudelndes handelte. Espérandieu war ein Spezialist für Moleküle: Moleküle zum Aufwachen, Moleküle für den Schlaf, fürs Gedächtnis, für den Muskeltonus, gegen Husten, Schnupfen, Migräne, Bauchschmerzen … Am unglaublichsten aber war, dass Espérandieu nicht etwa ein alter Polizist kurz vor der Pensionierung war, sondern ein junger Spürhund der Mordkommission von kaum dreißig Jahren. Topfit. Dreimal pro Woche joggte er an der Garonne. Ohne echte gesundheitliche Beeinträchtigung, hatte er eine ganze Reihe eingebildeter Leiden erfunden, von denen durch fleißige Übung zumindest einige real wurden.
»Wann kommst du zurück? Wir brauchen dich hier. Die Jungs behaupten, die Polizei hätte sie
geschlagen.
Ihr Anwalt sagt, die Alte sei eine Säuferin«, fuhr Espérandieu fort. »Dass ihre Aussage nichts wert sei. Er hat beim Haftrichter die sofortige Freilassung des Ältesten beantragt. Die beiden anderen sind schon auf freiem Fuß.«
Servaz dachte nach.
»Und die Fingerabdrücke?«
»Nicht vor morgen.«
»Ruf den Staatsanwalt an. Sag ihm, er soll die Freilassung des Ältesten hinauszögern. Wir wissen, dass sie es waren: Die Fingerabdrücke werden es beweisen. Er soll mit dem Richter sprechen. Und mach dem Labor ein bisschen Dampf.«
Er legte auf, mittlerweile völlig wach. Nach dem Duschen trocknete er sich rasch ab und zog sich saubere Kleidung über. Er putzte sich die Zähne und betrachtete sich im Spiegel über dem Waschbecken, wobei er an Irène Ziegler dachte. Er ertappte sich, dass er sich länger musterte als sonst. Was mochte die Gendarmin wohl in ihm sehen? Einen noch jungen Typ, nicht unattraktiv, aber ziemlich müde wirkend? Einen etwas beschränkten, aber tatkräftigen Polizisten? Einen geschiedenen Mann, dem man die Einsamkeit am Gesicht und am Zustand seiner Kleidung ansah? Wenn er sich hätte selbst beschreiben müssen, was hätte er gesehen? Mit Sicherheit die Ringe um die Augen, die Falte um den Mund und die andere, vertikale, zwischen den Brauen – er sah aus, als käme er gerade aus der Trommel einer Waschmaschine. Dennoch blieb er überzeugt davon, dass trotz der Verwüstungen noch immer eine jugendliche Leidenschaft in ihm zu spüren war. Verflixt, was war nur plötzlich in ihn gefahren? Er kam sich vor wie ein hitziger Jugendlicher, zuckte mit den Schultern und trat auf den Balkon seines Zimmers. Das Hotel »Le Russell« erhob sich zwischen den Straßen der Oberstadt von Saint-Martin, und von seinem Zimmer aus konnte er einen Großteil der Dächer der Stadt überblicken. Die Hände am Geländer, sah
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