Schwarzer Schmetterling
Haruki Murakami. Einem Japaner. Ein Autor, von dem er noch nie gehört hatte. In Gesellschaft von Espérandieu hatte Servaz manchmal den Eindruck, dass sie nicht die gleiche Sprache sprachen, dass sie aus zwei weit voneinander entfernten Gegenden mit je eigener Kultur, eigenen Sitten und Bräuchen stammten. Sein Stellvertreter hatte jede Menge Interessen, die sich alle grundlegend von seinen unterschieden: Comics, japanische Kultur, Naturwissenschaft, zeitgenössische Musik, Fotografie …
Espérandieu erwachte aus seiner Versunkenheit und sah auf die Uhr:
»Die Obduktion ist um acht«, sagte er, das Buch zuklappend. »Ich zieh dann mal los.«
Servaz nickte nur. Sein Stellvertreter kannte seine Arbeit. Servaz trank einen Schluck Kaffee, und er spürte sofort, dass sein Hals leicht entzündet war.
Zehn Minuten später stapfte er seinerseits durch die verschneiten Straßen. Er war im Büro von Cathy d’Humières mit Ziegler und Propp verabredet; anschließend wollten sie gemeinsam das Institut besuchen. Die Staatsanwältin sollte ihnen den Richter vorstellen, dem sie die Ermittlungen anvertrauen wollte. Im Gehen knüpfte er an die Gedanken an, die ihm am Vortag durch den Kopf gegangen waren. Was hatte Lombard und Grimm zu Opfern prädestiniert? Welche Verbindung bestand zwischen ihnen? Laut Aussage von Chaperon und der Witwe kannten sich Lombard und Grimm nicht. Vielleicht war Lombard ein- oder zweimal in der Apotheke gewesen, aber das war keineswegs sicher: Es gab in Saint-Martin fünf andere Apotheken – und Eric Lombard hatte bestimmt jemanden, der solche Einkäufe für ihn erledigte.
So weit war er mit seinen Überlegungen, als er jäh erstarrte. Irgendetwas, ein Gefühl, hatte ihn aufgeschreckt.
Das unangenehme Gefühl, verfolgt zu werden …
Er drehte sich unvermittelt um und suchte die Straße hinter sich mit den Augen ab. Da war nichts. Nur ein Paar, das lächelnd durch den Schnee stapfte, und eine alte Frau, die mit einer Einkaufstasche um eine Straßenecke bog.
Mist, dieses Tal macht mich noch paranoid.
Fünf Minuten später ging er durch die Gittertür des Justizpalasts. Anwälte plauderten auf den Stufen und rauchten eine Zigarette nach der anderen, Angehörige von Beschuldigten warteten nägelkauend auf die Fortsetzung der Verhandlung. Servaz durchquerte die Vorhalle und steuerte auf die Ehrentreppe auf der linken Seite zu. Als er den Treppenabsatz erreichte, tauchte ein kleiner Mann hinter einer Marmorsäule auf und eilte die Treppe zu ihm herunter.
»Commandant!«
Servaz blieb stehen. Er betrachtete den Mann, der jetzt auf gleicher Höhe mit ihm war.
»Sie sind also der Polizist aus Toulouse.«
»Kennen wir uns?«
»Ich hab Sie gestern morgen gemeinsam mit Catherine am Tatort gesehen«, antwortete der Mann und hielt ihm die Hand hin. »Sie hat mir Ihren Namen genannt. Sie scheint zu glauben, dass Sie der richtige Mann sind.«
Catherine …
Servaz drückte die ausgestreckte Hand.
»Und Sie sind?«
»Gabriel Saint-Cyr, Ermittlungsrichter a.D. Ich habe fast fünfunddreißig Jahre in diesem Gebäude gearbeitet.« Der kleine Mann deutete mit ausholender Geste auf die große Halle. »Ich kenne hier alles bis in den kleinsten Winkel. Genauso wie ich jeden Einwohner dieser Stadt kenne, oder doch fast jeden.«
Servaz musterte ihn eingehend. Eine kleine Statur, aber mit den Schultern eines Ringkämpfers, ein freundliches Lächeln und ein Akzent, der verriet, dass er hier geboren oder jedenfalls nicht weit von hier aufgewachsen war. Allerdings fiel Servaz der durchdringende Blick auf, und ihm wurde klar, dass sich hinter dieser biederen Fassade ein scharfer Intellekt verbarg – während doch sonst so viele hinter der Maske des Zynismus und der Ironie nur ihre Einfallslosigkeit verbargen.
»Ist das ein Angebot?«, fragte er heiter.
Der Richter lachte laut auf. Ein helles, schallendes, ansteckendes Lachen.
»Na ja, einmal Richter, immer Richter. Ich will Ihnen nicht verhehlen, dass ich meinen Ruhestand bedauere, wenn ich sehe, was heutzutage geschieht. So was hat es früher hier nicht gegeben. Hin und wieder ein Mord aus Leidenschaft, ein Nachbarschaftsstreit, der mit einem Schuss endete: die ewigen Manifestationen der menschlichen Dummheit. Falls Sie Lust haben sollten, bei einem Glas darüber zu plaudern, bin ich Ihr Mann.«
»Haben Sie schon das Ermittlungsgeheimnis vergessen, Herr Richter?«, entgegnete Servaz freundlich.
Saint-Cyr zwinkerte ihm zu.
»Ach, Sie müssten mir ja nicht
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