Schwarzer Schwan
sein, Zitate daraus gehen gerade über sämtliche Nachrichtenagenturen.«
Der Fernsehmann nickte Mierscheid einen stummen Gruß zu, ein stechender Blick aus blauen Augen, das schmale Lächeln in die Mundwinkel geklemmt. Mierscheid konnte sich daran erinnern, dass der Typ vor ewigen Zeiten die Nachrichten im Regionalprogramm angesagt hatte. Mit Schnäuzer und im Strickpulli. Eigentlich war er damals ganz locker gewesen.
»Die Wirklichkeit ist: Deutschland ist nicht Japan«, las Frantzen vor. »In Deutschland hat sich nichts verändert. Die Lehre darf nicht die Rolle rückwärts sein. Ein überhasteter Ausstieg ist das Gegenteil von vorbildlich und eine Sackgasse. Für Deutschland muss es deshalb beim konditionierten, aber klaren Ja zur Kernenergie bleiben.«
»Kohl?«, fragte Mierscheid und kannte die Antwort. Fraktionskollege Paschke war seinem Rat gefolgt.
»Damit erreicht er die Bürger nicht mehr«, antwortete Frantzen.
»Aber immer noch weite Teile der CDU«, widersprach der TV-Moderator.
»Der Alte«, sagte Dingendorff und schnalzte mit der Zunge. »Schießt aus allen Rohren. Was meint ihr – kriegt er die Kanzlerin mürbe, oder nicht?«
»Kann sein«, sagte der Fernsehmann.
Frantzen wog den Kopf.
»Und jetzt zeigt ihr Herrn Mierscheid eure Tätowierungen«, befahl Dingendorff. »Los, macht schon, Leute, keine falsche Scham!«
Gegen Mitternacht war Mierscheid zu Hause. Eigentlich Zeit fürs Bett, aber er hatte im Schloss genügend Wein getrunken, um Lust auf mehr bekommen zu haben.
Mierscheid entkorkte eine Flasche und machte es sich erneut mit Paulas Tagebuch auf dem Sofa gemütlich. Nach einer Weile holte er seinen Laptop hinzu und begann, im Internet zu stöbern.
Er fand Helios, den Sonnengott. Sohn von Hyperion und Theia, Bruder des Mondes und der Morgenröte. Tag für Tag lenkte er den vierspännigen Sonnenwagen über den Himmel. Für viele Griechen war er so bedeutend wie Zeus.
Sol hieß die römische Version. Auch Sol Invictus genannt, auf ewig unbesiegt, Beschützer der Cäsaren und ihrer Truppen, für die er häufig die einzig wahre Gottheit war. Den Geburtstag des Strahlemanns feierten die Römer am 25. Dezember.
Mierscheid hob das Glas auf Dingendorff, Möchtegernkaiser und Gott. Und auf Helmut Frantzen, Dingendorffs dicksten Kumpel. Das dezente Tattoo soll das Erkennungszeichen ihrer Schulhofbande gewesen sein.
Auch in der Studentenzeit hatten sie dem antiken Fimmel gefrönt und zahlreiche Kommilitonen dazu gebracht, sich ebenfalls das Zeichen stechen zu lassen, um so den Schwur gegenseitiger Gefolgschaft zu bekräftigen. Zahlreiche Tattooträger hatten es später tatsächlich zu etwas gebracht und sich im Sparclub wiedergetroffen – keine schlagende Verbindung, sondern eine stechende, fiel Mierscheid dazu ein.
Ich kann Conni nicht sagen, dass ich die kleine Sonne selbst schon gesehen habe – tatsächlich auf Dingendorffs widernatürlich fettarmem Sixpack-Leib.
Wie viele Männer die Zacken um den Nabel trugen, konnten oder wollten Dingendorff und Frantzen nicht verraten. Angeblich hatten sie keinen Überblick und auch nicht mehr den Kontakt zu allen Freunden von früher.
Ausgerechnet Dingendorff hatte sich das Zeichen entfernen lassen. Weil Paula es so wollte. Es habe sie an die Tätowierung erinnert, von der ihre Schwester berichtet hatte. Bis zum gemeinsamen Urlaub habe sie die Ähnlichkeit für bloßen Zufall gehalten. Doch dann begann sie, Fragen zu stellen – sie stritten und sie trennten sich. Das alles hatte der RheinBank-Chef zugegeben.
Mierscheid staunte immer noch über die Offenheit Dingendorffs. Als habe der Mann sogar Verständnis für den körperlichen Angriff und den schrecklichen Verdacht. Er hat mich an die Kanzlerin verkauft und kann nicht mehr zurück, überlegte Mierscheid. Ich bin Teil des Salzstock-Pakets. Lothar Mierscheid, parlamentarischer Staatssekretär im Umweltministerium – will ich das überhaupt?
Aber vielleicht steckte der Sparclubhäuptling doch hinter Paulas Ermordung. Und Dingendorffs Redseligkeit war reine Vernebelungstaktik gewesen. Um ihn, Mierscheid, in Sicherheit zu wiegen, der womöglich bereits als Nächster auf der Abschussliste stand.
Er trank sein Glas leer. Genug für heute. Leicht schwankend stand Mierscheid auf, überprüfte die Verriegelung der Haustür und stellte sicher, dass die Fensterläden im Erdgeschoss geschlossen waren.
Er hatte sein Heim stets für einbruchsicher gehalten, aber zum ersten Mal bedauerte er es, nicht
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