Schwarzer Sonntag
verbreitete Taubheit, und die Maske des Arztes näherte sich seinem Gesicht. Kabakov, der wie ein Unbeteiligter zuschaute und nicht an sich hinunterblickte, war leicht überrascht, als er sah, daß die Hände des Arztes, die sich gerade nach frischen, sterilisierten Handschuhen ausstreckten, die Hände einer Frau waren. Dr. Rachel Bauman, Assistenzärztin der neurologischen Abteilung des Mount Sinai Hospitals in New York, jetzt freiwillige Feldchirurgin, entfernte die Kugel, die Kabakovs Schlüsselbein angeschlagen hatte.
Er erholte sich gerade in einem Krankenhaus in Tel Aviv, als sie zu einer Nachvisite auf seine Station kam. Sie war eine attraktive Frau von etwa 26 Jahren mit dunkelrotem, zu einem Knoten geschlungenem Haar. Kabakovs Augen ließen sie keine Sekunde los, als sie mit einem älteren Stabsarzt und einer Schwester ihre Visite begann.
Die Schwester schlug die Bettdecke zurück. Dr. Bauman sprach nicht mit Kabakov. Sie interessierte sich nur für die Wunde, betastete die Haut ringsum mit den Fingerspitzen. Dann tat der Stabsarzt das gleiche.
»Sehr gute Arbeit, Dr. Bauman«, sagte er.
»Vielen Dank, Doktor. Man hat mir die leichteren Fälle gegeben.«
» Sie haben mich operiert?« fragte Kabakov.
Sie sah ihn an, als hätte sie ihn jetzt erst wahrgenommen.
»Ja.«
»Sie haben einen amerikanischen Akzent.«
»Ja, ich bin Amerikanerin.«
»Danke, daß Sie gekommen sind.«
Eine Pause, ein verlegenes Blinzeln, sie wurde rot. »Danke,
daß Sie atmen«, sagte sie und ging zum nächsten Bett. Kabakovs Gesicht verriet Überraschung.
»Dummkopf«, sagte der ältere Arzt. »Was würden Sie dazu sagen, wenn ein Jude Ihnen dafür dankte, daß Sie heute den ganzen Tag wie ein Jude gehandelt haben?« Er klopfte Kabakov auf den Arm, ehe er weiterging.
Eine Woche später, wieder in Uniform, sah er sie auf den Eingangsstufen, als er das Krankenhaus verließ.
»Dr. Bauman.«
»Major Kabakov. Ich freue mich, daß Sie wieder draußen sind.« Sie lächelte nicht. Der Wind preßte ihr eine Haarsträhne an die Wange.
»Essen Sie mit mir zu Abend?«
»Vielen Dank, aber ich habe keine Zeit. Ich habe Dienst.« Sie ging die Stufen hinauf ins Krankenhaus.
In den nächsten Wochen war Kabakov nicht in Tel Aviv, da er die Verbindung zu den Kontaktmännern an der syrischen Grenze wieder aufnehmen mußte. Eines Nachts führte er einen Spähtrupp hinter die Waffenstillstandslinie. Es war eine mondlose Nacht, und bald hatten sie die syrische Raketenabschußbasis erreicht. Entgegen den Waffenstillstandsbedingungen war sie nicht abgebaut worden. Und der Aufmerksamkeit der UNOTruppen schien sie entgangen zu sein. Die sowjetischen Raketen explodierten alle gleichzeitig in ihren Rampen und hinterließen einen tiefen Krater im Berghang.
Wenn er in Tel Aviv zu tun hatte, besuchte er gelegentlich Frauen, die er kannte, und er war so gern mit ihnen zusammen wie früher. Und jedesmal lud er, vergeblich, Rachel Bauman zum Essen ein. Sie war jetzt im OP tätig und behandelte bis zu sechzehn Stunden täglich Hirnverletzte. Schließlich sagte sie zu. Erschöpft und nach Desinfektionsmitteln riechend, traf sie sich von da an gelegentlich mit Kabakov in der Nähe des Krankenhauses zu einer hastigen Mahlzeit. Sie war sehr zurückhaltend, und sie schützte sich, schützte die Bahn, die ihr Leben genommen hatte. Manchmal saßen sie abends nach der letzten Operation auf einer Parkbank und tranken Cognac aus einer Taschenflasche. Für lange Unterhaltungen war sie zu müde, aber sie fühlte sich gestärkt und getröstet, wenn sie neben der großen dunklen Gestalt Kabakovs saß. Sie wollte nicht mit in seine Wohnung kommen.
Dann aber trat in ihrem Verhältnis zueinander eine Veränderung ein. Sie saßen im Park, und sie war, was Kabakov in der Dunkelheit nicht erkennen konnte, den Tränen nahe. Eine verzweifelte, vierstündige Operation war mißlungen, eine Gehirnverletzung. Da Kopftraumata zu ihrem Fachgebiet gehörten, hatte man sie zur Diagnose hinzugezogen, und sie hatte bei einem siebzehnjährigen arabischen Soldaten die Symptome für ein subdurales Hämatom bestätigt. Der erhöhte Druck der zerebrospinalen Flüssigkeit und das Vorhandensein von Blut in dieser Flüssigkeit ließen keinen Zweifel zu. Sie assistierte dem Neurochirurgen. Die unvermeidliche Gehirnblutung trat ein, und der junge Mann war tot. Starb, während sie noch sein Gesicht beobachtete.
Kabakov, der nichts davon wußte, erzählte ihr lachend von einem Panzerfahrer, der, einen
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