Schwarzer Sonntag
sie. Dahlia wandte sich an sie.
»Was ist mit dem Patienten auf 327?«
»Mit wem?«
»Dem Mann auf 327.«
»Ich kann nicht alle Patienten im Kopf behalten. Ich hab Sie hier noch nie gesehen. Sind Sie neu?«
»Ja, ich war vorher im St. Vincent.« Das stimmte, denn sie hatte im St. Vincent’s Hospital in Manhattan den Ausweis und alles andere gestohlen. Dahlia mußte sich jetzt beeilen, selbst wenn sie die Schwester damit mißtrauisch machte. »Wenn er verlegt worden ist, muß es doch hier drin stehen.«
»Seine Karteikarte ist wahrscheinlich unten eingeschlossen. Wenn er hier nicht in der Kartei ist, dann liegt er auch nicht mehr hier auf der Station, und wenn er nicht mehr hier auf der Station liegt, ist er wahrscheinlich gar nicht mehr hier im Krankenhaus.«
»Die anderen Schwestern sagten, es hätte viel Wirbel gegeben, als er eingeliefert wurde.«
»Nicht nur bei der Einlieferung, das kann ich Ihnen sagen. Gestern kam noch um drei Uhr nachts eine Ärztin und wollte unbedingt seine Röntgenbilder sehen. Ich mußte extra nach oben und den Röntgenraum aufschließen. Man muß ihn gestern weggebracht haben, als ich schon weg war.«
»Welche Ärztin war es?«
»Weiß ich nicht. Gab sich nicht eher zufrieden, bis sie die Aufnahmen hatte.«
»Hat sie den Empfang quittiert?«
»Oben in der Röntgenstation mußte sie unterschreiben. Das müssen alle.«
Die Oberschwester kam zurück. Jetzt aber schnell. »Ist die Röntgenabteilung im vierten Stock?«
»Im fünften.«
Die Oberschwester und die Hilfsschwester redeten miteinander, als Dahlia den Fahrstuhl betrat. Die Türen schlossen sich. Dahlia sah nicht mehr, wie die Hilfsschwester zum Lift hinüberzeigte und wie die Oberschwester, die sich an ihre Anweisungen erinnerte, erschrak und nach dem Telefonhörer griff.
In der Notaufnahme piepste es aus dem Walkie-Talkie von Sergeant John Sullivan. »Halt’s Maul!« rief der Polizist dem fluchenden, betrunkenen Mann zu, den sein Kollege festhielt. Sullivan nahm sein Sprechfunkgerät vom Gürtel ab und meldete sich.
»Emma Ryan, Oberschwester dritte Etage, meldet verdächtige Frau, weiß, blond, etwa 1,68 m groß, Ende Zwanzig, Schwesterntracht, möglicherweise auf der Röntgenstation im fünften Stock«, sagte der Revierdienstleiter. »Ein Wachmann wird Sie an den Fahrstühlen erwarten. Wagen 71 ist unterwegs.«
»Zehn-vier«, sagte Sullivan und schaltete ab. »Jack, binde den Kerl an die Bank und bewach die Treppe, bis 71 kommt. Ich gehe rauf.«
Der Wachmann wartete mit einem großen Schlüsselbund.
»Legen Sie alle Fahrstühle bis auf den ersten still«, sagte Sullivan. »Los, rauf.«
Dahlia hatte keine Mühe mit dem Schloß des Röntgenlabors. Sie zog die Tür hinter sich zu. Mit einem Blick erfaßte sie den massigen Röntgentisch, das Gehäuse der Röntgenröhre. Sie rollte einen der schweren Bleischirme vor die Tür aus Milchglas und knipste ihre Kugelschreiberlampe an. Der kleine Strahl glitt über den aufgerollten Bariumschlauch, die Schutzbrille und die Handschuhe, die neben dem Leuchtschirm hingen. Eine Sirene. Ein Krankenwagen? Polizei? Ein schneller Blick in die Runde. Diese Tür - eine Dunkelkammer. Eine Nische mit großen Aktenschränken. Schubfächer, die sich auf rasselnden Rollen öffneten - Röntgenbilder in Umschlägen. Hier ein kleines Büro, ein Schreibtisch und ein Buch. Schritte im Flur. Ein Lichtkreis auf den Seiten, schnell umblättern, schnell. Das Datum von gestern. Eine Seite mit Unterschriften und Patientennummern. Es mußte ein Frauenname sein. Nach den Zeitangaben in der linken Spalte vorgehen. 4 Uhr, nur eine Nummer, kein Patientenname, Röntgenbilder an Dr. Rachel Bauman ausgehändigt. Keine Rückgabebestätigung.
Die Schritte machten vor der Tür halt. Schlüsselklappern. Der erste paßt nicht. Perücke und Brille hinter den Aktenschrank werfen. Die Tür stößt gegen den Bleischirm. Ein riesiger Polizist und ein Wachmann kommen herein.
Dahlia Iyad stand vor einem eingeschalteten Röntgenbildbetrachter. Vor der beleuchteten Scheibe klemmte das Röntgenbild eines Brustkorbs. Rippen warfen Licht- und Schattenstreifen auf ihre Schwesterntracht. Knochenschatten glitten über ihr Gesicht, als sie sich den beiden Männern zuwandte. Der Polizist hatte seinen Revolver gezogen.
»Ja, bitte?« So tun, als bemerke sie die Pistole erst jetzt. »Mein Gott, stimmt etwas nicht?«
»Bleiben Sie stehen, wo Sie sind.« Mit der freien Hand tastete Sullivan suchend nach dem Lichtschalter und fand ihn. Jetzt, da der
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