Schwarzer Sonntag
Raum beleuchtet war, sah Dahlia die Einzelheiten des Büros, die sie im Dunkeln nicht bemerkt hatte. Der Polizist sah sich rasch im Raum um.
»Was machen Sie hier?«
»Ich betrachte ein Röntgenbild, das sehen Sie doch.«
»Sind Sie allein?«
»Ja. Vor ein paar Minuten war eine Schwester hier.«
»Blond, etwa Ihre Größe?«
»Ja, ich glaube.«
»Wohin ist sie gegangen?«
»Keine Ahnung. Was ist denn los?«
»Das wollen wir gerade rausfinden.«
Der Wachmann sah in die anderen Räume, die an das Röntgenlabor grenzten, und kehrte kopfschüttelnd zurück. Der Polizist starrte Dahlia an. Irgend etwas störte ihn an ihr, aber er wußte nicht, was es war. Ich sollte sie durchsuchen, dachte er, ich sollte sie zu der Oberschwester bringen, die angerufen hat. Ich sollte die ganze Etage sichern. Ich sollte über Funk meinen Kollegen rufen. Krankenschwestern hatten in ihren weißen Trachten so etwas Unnahbares. Er mochte nicht Hand an eine Krankenschwester legen. Er wollte keine Krankenschwester beleidigen. Er wollte nicht eine Krankenschwester abführen und sich womöglich lächerlich machen.
»Tut mir leid, Schwester, aber Sie müssen kurz mitkommen. Wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen.«
Sie nickte. Sullivan steckte seine Waffe weg, ließ aber die Revolvertasche offen. Er befahl dem Wachmann, die anderen Zimmer auf der Etage zu durchsuchen, und nahm das Funkgerät vom Gürtel.
»Sechs-fünf, sechs-fünf.«
»Ja, John«, kam die Antwort.
»Eine Frau im Labor. Sie sagt, die Gesuchte sei hier gewesen und wieder gegangen.«
»Vorder- und Hintereingang werden bewacht. Soll ich hochkommen? Bin auf dem Treppenabsatz zum dritten Stock.«
»Ich bringe sie runter. Hol die Oberschwester.«
»John, die Oberschwester sagt, daß um diese Zeit niemand im Labor sein darf.«
»Ich bringe sie runter. Warte.«
»Wer hat das gesagt?« fragte Dahlia erregt. »Sie ... also wirklich!«
»Kommen Sie.« Er ging hinter ihr zum Fahrstuhl, beobachtete sie, die Hand an der Revolvertasche. Sie stand neben den Fahrstuhlknöpfen. Die Türen schlossen sich.
»Dritter?« fragte sie.
»Ich mach schon.« Er langte mit der Rechten nach dem Knopf. Im gleichen Augenblick hatte Dahlias Hand den Lichtschalter erreicht. Im Fahrstuhl wurde es schwarz. Scharrende Füße, Lederknirschen, ein Ächzen, ein Fluch, ein dumpfer Schlag, keuchendes Atmen, während die Zahlen des Etagenanzeigers nacheinander aufleuchteten.
Im dritten Stock beobachtete Sullivans Kollege die aufblinkenden Lichter über der Fahrstuhltür. Drei. Er wartete. Der Fahrstuhl fuhr weiter. Zwei. Der Fahrstuhl hielt an.
Verblüfft drückte er den Knopf für »Aufwärts« und wartete, während der Fahrstuhl wieder heraufkam. Er stand vor den Türen. Sie öffneten sich.
»John? Mein Gott, John!«
Sullivan lag da, mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen. Die Spritze steckte wie eine Banderilla in seinem Nakken.
Jetzt lief Dahlia so schnell sie konnte. Der lange Flur des zweiten Stocks schwankte, und über ihr tanzten die Lampen. Vorbei an einer verdutzten Hilfsschwester und um die Ecke in eine Wäschekammer. Schnell in einen hellgrünen Operationskittel schlüpfen. Die Haare hochstecken. Einen Mundschutz um den Hals hängen. Die Treppe hinunter zur Notaufnahme im hinteren Teil des Erdgeschosses. Jetzt ging sie langsam und sah die drei Polizisten, die wie Apportierhunde in die Runde blickten. Besorgte Verwandte saßen auf den Stühlen im Warteraum. Die Schreie eines Betrunkenen, dem man ein Messer in den Leib gerammt hatte. Opfer von Schlägereien, die auf Behandlung warteten.
Auf einer Bank saß eine kleine Puertorikanerin und schluchzte. Dahlia ging zu ihr, setzte sich neben sie und legte den Arm um die dicke kleine Frau. »No tenga miedo«, sagte Dahlia.
Die Frau blickte zu ihr auf. In ihrem nußbraunen Gesicht blitzten Goldzähne. »Wie geht es Julio?« fragte sie.
»Keine Sorge, er kommt durch. Kommen Sie, kommen Sie mit an die frische Luft. Dann werden Sie sich besser fühlen.« »Aber ...«
»Seht. Tun Sie, was ich sage.«
Sie zog die Frau hoch, die mit ihrem schwangeren Leib und ihren zerschlissenen Schuhen unter Dahlias schützendem Arm wie ein hilfloses Kind wirkte.
»Ich hab’s ihm gesagt. Ich hab’s ihm hundertmal gesagt...« »Beruhigen Sie sich. Beruhigen Sie sich.« Zum Seitenausgang der Notaufnahme gehen. Vor der Tür stand ein Polizist. Ein kräftiger Kerl, der in seiner blauen Uniform schwitzte.
»Warum kommt er nicht nach Hause zu mir? Warum muß er sich immer
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