Schwarzer Tanz
die Leute keine schlechte Meinung von dir bekommen. Vertraue niemandem. Lass dich nicht gehen. Versuch, dich wie die anderen Leute zu benehmen.«
Ruth knabberte an ihrem Buntstift.
Einem inneren Drang nachgebend, nahm Rachaela die Zeichnung und starrte darauf.
Ruth hatte die Heide gemalt, die Heide der Scarabae, den Drachenbereich, und den Drachen, der aus seiner Höhle kam, um seinen Ritter zu töten. Auf einem Hügel stand ein merkwürdig geformter Fels – der Monolith?
» Was hat dich darauf gebracht?« Rachaela deutete auf die Zeichnung.
» Ich weiß nicht.« Ruth sah sie schließlich mit ihren scharfen, klugen, schwarzen Augen an. Ihr ebenmäßiges, schneeweißes Gesicht war uralt.
» Das ist eine sehr gute Zeichnung.«
» Danke.«
Rachaela gab die Heide und den Drachen zurück. Über diesen Ort war sie gewandelt, als Ruth nur ein Ding war, das sich in ihr zusammengerollt hatte. Wie sonst hätte das Kind ihn sehen können?
» Mami«, sagte Ruth, » können wir eine Katze haben?«
» Nein, ich glaube nicht. Tut mir leid, aber wir haben keinen Garten und sind den ganzen Tag nicht daheim.«
Sie wollte nicht, dass Ruth eine Katze bekam. Sie wusste nicht, warum. Sicherlich würde Ruth der Katze nicht wehtun, da sie die Katzen draußen immer streichelte. Rachaela hatte es gesehen. Es war etwas anderes. Ruth weinte nicht, versuchte auch nicht, ihren Willen durchzusetzen. Sie nahm die Heide und ging zurück hinter ihre Wand.
Ein Sturm rüttelte an dem Haus.
Rachaela träumte von Adamus, der sich über sie beugte, sein Haar eine einzige schwarze Kapuze. Ein Blitz erhellte ihn, verblasste.
Sie öffnete die Augen. Ruth saß am Fenster und beobachtete den Sturm.
Ein blauer Blitz erleuchtete den Himmel, das Kind zuckte nicht zusammen, lehnte sich noch näher an die Scheibe. Ruth hatte Stürme beobachtet, seit sie drei oder vier Jahre alt war. Donner bombardierte die Hauptstadt.
Rachaela stand auf und tappte im Licht der Straßenlaternen, das durch die unverhüllten Fenster drang, in die Küche.
» Möchtest du etwas zu trinken? Milch? Kaffee?«
» Nein, danke.«
Rachaela schaltete kein Licht an. Sie füllte den Kessel und stellte ihn auf die Herdplatte. Eine gelblich-blaue Gasflamme leuchtete in der orangefarbenen Dunkelheit auf. Es blitzte erneut.
Als sie den Kaffee trank, verspürte sie den unwiderstehlichen Drang, im Zimmer umherzugehen. Das Kind ignorierte sie. Als sie in Ruths Bereich kam, sah sie die Perlen und Glöckchen, die Uhr und die Gemälde, von einem weiteren Blitz erhellt. So viel, das glänzte. Und dort hing der Spiegel, den sie Ruth geschenkt hatte.
Der Spiegel war verändert.
Ohne einzutreten, beugte sich Rachaela vor, um besser sehen zu können.
» Was hast du mit dem Spiegel gemacht?«
» Ich habe ihn angemalt.« Wieder das blaue Blitzlicht. Das ganze Glas war mit Feldern und Wiesen, Blumen und Wolken, entfernten, von Nebelschwaden umhüllten Bergen bedeckt.
13
Sie hatte den Badezimmerspiegel gekauft, kurz nachdem sie eingezogen war. Er ging über eine ganze Wandfläche. Als das Badewasser einlief, beschlug er mit nebligem Dampf. Rachaela wischte ihn ab. Das kalte Licht des Wintermorgens bohrte sich durch das Milchglasfenster; Seitenlicht, das härteste Licht überhaupt. Rachaela untersuchte ihr Gesicht und ihren Körper.
Sie war vierzig. Man sah es ihr nicht an. Sie sah noch genauso aus wie mit neunundzwanzig, vor der Geburt des Kindes. Selbst das hatte sie nicht berührt. Keine Schwangerschaftsstreifen, keine Orangenhaut, Bauch und Schenkel fest, weiß und glatt, der Busen voll und straff, die Brustwarzen klein und rosig. Der Hals faltenlos, das Gesicht faltenlos, die Augenbrauen- und Wangenpartie glatt. Das Kinn war fest. Keine Tränensäcke unter den Augen, keine Fältchen um den Mund. Gesicht und Körper einer jungen Frau. Und in dem schwarzen Haar, dem Haar an ihrer Schamgegend, keine einzige silberne Locke.
Es machte ihr keine Freude. Sie versuchte, sich nicht davon aus der Ruhe bringen zu lassen. Sie war daran gewöhnt, sah es jeden Tag. Sie hatte mit Bemerkungen wie Jonquils zu leben gelernt: » Aber du bist ja noch ein Kind.« Selbst Denise war etwas älter geworden, wurde durch die großen Mahlzeiten, die sie für den stets hungrigen Keith zubereitete, in ihren Dreißigern immer fülliger und schwammiger. Jonquil hatte sich nicht sehr verändert, ihre Haut war härter und widerspenstiger geworden, sie hatte den Ohrring aus Stahl gegen einen aus Horn vertauscht, und
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