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Schwarzer Tanz

Schwarzer Tanz

Titel: Schwarzer Tanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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erhalten.«
    Rachaela aß Tomaten und Toast zu Mittag und stellte sich vor, wie Ruth ihre Brote an irgendeiner Mauer oder in einem Park zu sich nahm.
    Die Schule musste sie langweilen.
    Rachaela wusste, dass sie sehr gut lesen konnte, jedoch von Zahlen keine Ahnung hatte. Das war schon zu Emmas Zeiten so gewesen und hatte sich auch nicht geändert, denn Ruth hatte Rachaela ein- oder zweimal irgendeine arithmetische Frage gestellt, die Rachaela selbst nicht hatte beantworten können. Ruth hatte sogar beim einfachen Addieren Schwierigkeiten.
    » Wie viele Äpfel sind noch übrig?«, hatte Rachaela sie kürzlich gefragt.
    Ruth hatte die Schale überprüft. » Ich weiß nicht, Mami.« Es waren sieben Äpfel. Das Kind bezahlte Sachen im Geschäft immer mit einer großen Münze oder einem Geldschein. Sie schleppte ihr Kleingeld zu Rachaela, um es von ihr in Fünfzigpencestücke und Pfundnoten umwechseln zu lassen. Vielleicht war es falsch, Mitleid mit Ruth zu empfinden, nur weil sie selbst die Schule ebenfalls geschwänzt hatte. Und doch betrachtete Rachaela mit einiger Belustigung das nur kurze Zeit aufflackernde und allmählich abebbende Tageslicht, während sie darauf wartete, dass Ruth pünktlich heimkehren würde, als käme sie gerade von der Schule. Das Kind erschien auf der kalten Straße. Rachaela dachte an den Tag, an dem sie sie im Schnee beobachtet hatte, den Tag, an dem Emma sich mit einem gezwungenen Lächeln aus ihrem Leben geschlichen hatte. Arme, nützliche Emma.
    Wie anders Ruth jetzt war.
    Ihr Haar war nicht mehr zu Zöpfen geflochten, sondern hing glatt fast bis zu ihrer Taille herunter. Es war dicht und nahezu geschmacklos schwarz und schimmerte wie dicker Schlamm. Keine Mütze oder Handschuhe mehr, die langgliedrigen Klavierspielerhände fingerten unbedeckt an den Knöpfen ihres dunkelblauen Mantels herum. Der Ranzen war unpassenderweise noch vorhanden. Trotz der trügerischen Schultasche, den weißen Kniestrümpfen und den Kleinmädchenschuhen wirkte Ruth auf der Straße wie eine winzige Frau: ein Zwerg mit dem seltsam weißen Gesicht einer Elfe, der mehr eilig als elegant einherschritt.
    Als die Wohnungstür geöffnet wurde, saß Rachaela wieder am Tisch.
    » Hallo, Ruth.«
    » Hallo, Mami.«
    » Stell deine Tasche ab, zieh deinen Mantel aus, komm her, und setz dich zu mir.«
    » Was gibt es zum Abendbrot?«
    » Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.«
    » Kann ich Pommes frites haben?«
    » Du hattest gestern Pommes frites.«
    Ruth kam in ihrem kohlschwarzen Rock, ihrem blauen Pullover und ihrer scharlachroten Bluse an den Tisch. Rachaela gestattete ihr, sich ihre eigenen Farben zusammenzustellen. Und sie bewies dabei mit Sicherheit einen besseren Geschmack als diese Miss Barrett.
    » Du bist nicht in der Schule gewesen«, sagte Rachaela.
    Ruth blickte sie abschätzend an. Sie versuchte nicht zu lügen.
    » Nein.«
    » Warum nicht?«
    » Es gefällt mir dort nicht.«
    » Hat es dir früher gefallen?«
    » Es war in Ordnung.«
    » Und jetzt ist es das nicht mehr.«
    Ruth schwieg.
    » Quälen dich die anderen Kinder?«
    » Nein.«
    » Eine Frau aus deiner Schule war heute hier. Eine Miss Barrett.«
    » Plemplem Barrett«, sagte Ruth.
    » Du bist bei Woolworth’s gesehen worden.«
    » Oh«, meinte Ruth.
    » Warum Woolworth’s?«
    » Es hat geregnet.«
    » Was machst du, wenn es nicht regnet?«
    » Ich laufe herum«, sagte Ruth. Sie hielt einen Moment inne und fuhr dann fort: » Ich gehe zu dem großen Friedhof und sehe mir die Grabsteine an.« Sie fügte hinzu: » Manchmal nehme ich den Bus. Ich verlaufe mich. Ich gehe immer sicher, dass ich zum Abendbrot wieder zurück bin.«
    » Ja, ich weiß.«
    » Wirst du jetzt sagen, dass ich gehen muss?«, fragte Ruth. Ihr Gesicht war ausdruckslos. Sie hatte Rachaela nicht in Verdacht, dass sie sich mit den Autoritäten verbündete, betrachtete sie im Gegenteil als Gleichgesinnte, und doch war sie ihr fremd, eine Außenseiterin.
    » Es kommt darauf an, was du willst«, sagte Rachaela.
    » Ich will überhaupt nichts.«
    » Du wirst niemals einen tollen Job kriegen«, sagte Rachaela. » aber ich nehme an, dass sie dir schon alles darüber erzählt haben.«
    » Sie haben uns gefragt, was wir werden wollen.«
    » Und was hast du geantwortet?«
    » Ich habe gesagt, Bibliothekarin.«
    » Willst du das werden?«
    » Nein.«
    » Wenn es für dich wirklich keine Rolle spielt«, sagte Rachaela, » dann werde ich dich nicht zwingen.« Sie erinnerte sich an

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