Schwarzer Tanz
zu klein waren, an ihr Ohr.
Als sie noch ein Kind war, hatte ihre Mutter ihr von diesem Trick erzählt, doch zuerst schien er nicht so recht zu funktionieren. Es war irgendwo in einem Strandkorb am Meer, wo sie tagsüber hingefahren waren. Es hatte genieselt, und der Wind vom Meer war schneidend gewesen. Rachaela war über die Sanddünen gestolpert und hatte sich das Knie an einem Glassplitter aufgeschürft. In der Fischsuppe ihrer Mutter war eine große Gräte, über die sie sich schrecklich aufregte.
Natürlich kam das Meeresrauschen nicht aus den Muscheln. Und doch meinte Rachaela, eine Welle gehört zu haben, als sie die Muscheln wieder vom Ohr nahm. Ein Geräusch drang an ihr Ohr.
Rachaela
Sie hörte ihren Namen in dem flüsternden Rauschen, als hätte das Zimmer, die Steine der Mauern, ihn ausgesprochen. Eine blödsinnige Illusion, die sie trotzdem zutiefst bestürzte. Sie legte die Muscheln zurück auf die Kommode. Sie dachte an die Zuckerstange, die sie so gerne gehabt hätte, weil die anderen Kinder auch eine hatten, und die ihre Mutter ihr dann auch widerwillig gekauft hatte. Die Zähne werden dir ausfallen. Sie dachte an ihre Mutter, die so unecht und verrenkt in dem Sarg gelegen hatte, so steif wie ein Brett, mit roten Rougeflecken im Gesicht. Wie in der Nacht zuvor stiegen ihr wieder die Tränen in die Augen.
Einige Minuten lang weinte sie bitterlich, dann war es vorbei. Ein Abschied also. Von irgendetwas jedenfalls.
6
Nun, da sie den Weg zum Strand kannte, wagte sie sich manchmal die rutschigen Stufen zum Meer hinunter. Sie erforschte die enge, kleine Bucht, die bei Flut vom Meer überschwemmt wurde und danach von Algen, Treibholz, toten Quallen und anderen nicht identifizierbarem Treibgut bedeckt war.
Ansonsten marschierte sie immer noch eisern an der Heide entlang, bahnte sich ihren Weg durch Ginsterhecken und trockenes Laub, während die Möwen über ihr kreischten und die Kaninchen in dem Gras vor ihr flohen. Sie zwang sich zu diesen Gewaltmärschen, um nicht verrückt zu werden. Sie hatte nichts zu tun. Das Ganze war ein langer Urlaub, den sie wie in Trance erlebte.
Sie durchwanderte auch das Haus und versuchte sich zu orientieren. Es blieb ein Labyrinth, selbst dort, wo sie sich schon auskannte.
Sie hatte wieder angefangen, verschiedene Türen auszuprobieren und war ein- oder zweimal auf die Scarabae gestoßen, die sich unter diesen Steinen verbargen: die alte Anita strickend neben einem roten und violetten Fenster, das Begräbnis eines Königs; Miriam und Unice, die unter einem jadegrünen Fenster – vielleicht der auf einem Wal reitende Jonas – riesige Fotoalben wälzten.
Miriam und Unice hatten sie hereingewunken und ihr Hunderte von Fotografien gezeigt, bis sie völlig betäubt war. Sie führten ihr wunderschöne, wächserne Bildnisse von Männern und Frauen in altmodischen Kleidern vor, die vor Landschaften und Palmen in großen Kübeln posierten. Es gab keine neueren Fotos, keine Farbbilder. Rachaela war überrascht, dass auf den Bildern überhaupt Menschen zu erkennen waren, denn sicherlich waren diese Sippenmitglieder doch für eine Kamera so unsichtbar wie Geister, ebenso wie ihr Ebenbild allem Anschein nach auch von den reich verzierten Spiegeln nicht reflektiert wurde.
Eines Morgens nahm sie zusammen mit Peter und Dorian das Frühstück im Morgenzimmer ein. Niemand sprach. Einmal begegnete sie Alice, die, irgendeine unerklärliche Mission verfolgend, in einem Schal durch das Haus flatterte wie die Weiße Frau.
Sie ging Sylvian in der Bibliothek aus dem Weg, las ihre eigenen Bücher zum wiederholten Mal.
Sie hörte Radio, doch die gespielte Oper gefiel ihr nicht. Der Gesang erdrückte die Musik.
Anna und Stephan fanden sich jetzt wieder allabendlich im Wohnzimmer ein. Sie benahmen sich, als wäre nichts geschehen, und doch machte gerade Anna den Eindruck einer Katze, die an der Sahne geschleckt hatte. Sie waren zufrieden mit ihr. Ihr ganzes Benehmen drückte Wohlgefallen aus. Sie stellte ihnen keine Fragen. Camillo sah sie überhaupt nicht, und auch die anderen nur kurz, wenn sie vorüberhuschten.
Nach sieben Tagen und Nächten ging sie eines Nachmittags über die Hintertreppe und durch den unheimlichen Korridor zum Turm. Die Tür war verriegelt. Sie hämmerte dagegen, doch niemand antwortete. Eine nahezu rasende Wut packte sie; sie war verschüchtert, fast beschämt.
Am achten Abend, nach dem Dinner, traf sie in der Halle auf den riesenhaften Kater, der an der
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