Schwarzer Tanz
Leben«, sagte Anna.
» Und deswegen trauert ihr nicht um ihn«, sagte Rachaela, von ihrem Gleichmut betroffen. Sie wollte irgendeine Reaktion sehen.
» Trauer ist überflüssig«, meinte Anna. » Es ist vorbei.«
Sie erhob sich, und Stephan und sie gingen ins Esszimmer.
Rachaela sah, dass außer den normalen drei Gedecken keine weiteren aufgelegt worden waren. Anna und Stephan nahmen Platz. Rachaela setzte sich ebenfalls.
Cheta und Michael erschienen mit einer Terrine Kohlsuppe. Sie aßen schweigend. Ein Gefühl in Rachaela kratzte und knurrte, die Erwartung und Furcht, die sie seit gestern empfand, als sie vor ihm geflohen war, konzentrierte sich jetzt auf einen Punkt.
» Und die Beerdigung«, fragte sie. » Wo werden die Scarabae Sylvian beerdigen?«
Anna sah sie an. Die Augen dieser Leute hatten nicht mehr nur diesen hungrigen Blick. Der Hunger war etwas anderem gewichen. Eine Ähnlichkeit zwischen seinen und Annas Augen war glaubhaft. Flächen tiefer, schwarzer Flüssigkeit. Augen wie dunkle Bergseen.
» Mach dir keine Gedanken darüber, was passiert ist, Rachaela. Nichts soll dich beunruhigen. Wir haben unsere eigene Art. Du musst es uns überlassen, wie wir mit unseren Toten verfahren.«
» Wie?«
» Wie wir es für richtig halten.«
Gewinnend, überzeugend, so hart wie kalter Stahl. Nichts konnte sie aus der Fassung bringen. Sie sprach für sie alle.
Die Suppe wurde abgeräumt.
Michael brachte eine Fischpastete. Anna und Stephan begannen eine Unterhaltung über das ausgezeichnete Wintergemüse, und wie geschickt es von Carlo und Michael war, auch außerhalb der Saison etwas anzupflanzen.
Rachaela hörte zu. Sie wurde von Depression und Furcht übermannt, etwas, das sie, sie eigentlich hätten empfinden müssen. Dort oben lag der Tote in seinem Bett. Das Haus roch nach Rauch.
Sie war ausgeschlossen. Sie hatte keinen Anteil an diesen Riten. Sie würden sie nicht zu der Beerdigung einladen. Denn der Tod hatte nichts mit ihr zu tun; sie war das neue Leben, ebenso wie Adamus. Die blutschänderische Blüte, die sie mit ihrem Lächeln und ihrer Hintergründigkeit genährt hatten.
Rachaela wurde allmählich wütend. Aber auch das war sinnlos. Sie war nicht nur ihr Pfand, sie war ihr angebeteter Nachkomme. Wenn Trauer hier überflüssig war, dann war sie es ebenso.
Stephan und Anna aßen von der Pastete.
Rachaela stocherte in ihrem Essen herum. Früchtekompott wurde serviert.
Rachaela sagte nichts mehr, und als sie damit fertig war, auf ihrem Teller herumzuspielen, ließ sie die zwei allein und ging nach oben.
Sie konnte nichts machen, außer in ihrem Zimmer sitzen, den tröstlichen Klängen des Radios lauschen und so tun, als wäre dies ein gemütliches, freundliches Haus. Das Feuer und die Lampen, irgendeine hübsche, nostalgische Nettigkeit, nirgends Dunkelheit, keine Schatten, das Fenster klar, und bereit, den kommenden Tag einzulassen.
Die düstere Symphonie von Mahler verstärkte ihre trübsinnige Stimmung. Sie schaltete auf einen Nachrichtensender, um eine normale menschliche Stimme zu hören. Das machte sie nur sehr selten.
Männer und Frauen unterhielten sich über Politik. Rachaela war wie hypnotisiert. Die Welt da draußen, gefährlich und echt. Sie konnte sie sich nicht vorstellen und versuchte verzweifelt, daran zu glauben. An wie vielen ganz gewöhnlichen Orten lauschten diejenigen, die ein normales Leben führten, diesen Worten, die für sie jetzt so unwirklich waren. Sie hatte die strategischen Punkte der Landkarte nie kennengelernt. An diesem Abend waren andere Länder wie Träume, die Hauptstadt eine Illusion. Es gab nur das Hier und Jetzt.
Um Mitternacht hörte sie, wie sie sich im Haus bewegten.
Sie lief vor dem Kamin in ihrem Zimmer auf und ab. Sie wusste, dass sie sich um Sylvian kümmerten, irgendeine eigene Zeremonie, die nichts mit Ärzten, Priestern oder der Kirche zu tun hatte.
Einem Impuls nachgebend, öffnete sie den Kleiderschrank und nahm ihren Mantel heraus.
Sie verließ ihr Zimmer und verharrte lauschend auf dem Korridor. Sie konnte sie jetzt kaum mehr hören, doch dann vernahm sie ein leises Geräusch wie das Piepsen von Fledermäusen. Sie waren auf der Treppe, dem roten Perserteppich, auf dem Weg nach unten. Und Carlo musste bei ihnen sein, der starke Carlo, der Träger mit seiner Last.
Rachaela ging mit festen Schritten zu dem Treppenabsatz. Sie sah sie unten in der Halle. Sie waren alle gekommen, außer Camillo. Camillo und Adamus – zu alt und zu jung,
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