Schwarzer Tanz
auf die menschenüberfüllte Straße.
Die Kirche wurde mit Flutlichtern angestrahlt, St. Biene bei Nacht. Die Autos hatten blitzende weiße Augen. Die Bewohner und Besucher der Stadt spazierten lachend und gestikulierend umher.
Sie war in einem anderen Land.
Sie hatte vergessen, wie die Welt draußen war.
Was hatte er gesagt? Das Haus ist mein Gefängnis. Zwei Jahre außerhalb dieses Gefängnisses, und ich hasste sie … Ich musste zur Erde zurückkehren.
Sie wollte jedoch das Gefängnis des Hauses nicht.
Nein.
Bis auf zwei hatte sie all ihre Bücher zurücklassen müssen. Sie hatte ihre Auswahl schlampig und in aller Eile getroffen. Bücher, die etwas bedeuteten, schwierig zu bekommen, möglicherweise die falsche Wahl. Irgendwann in der Zukunft würde sie ihre verlassene Habe vielleicht von den Scarabae zurückfordern können. Oder würden sie an ihrer Statt nun ihre Sachen einkerkern? Mit Sicherheit würde sie nie mehr mit der Familie in Kontakt treten. Was hatte sie wirklich zu dieser Flucht bewogen? Sylvian oder Adamus? Oder etwas anderes, das mehr im Verborgenen lag?
Zu dieser Stunde würden die Lampen und Kerzen brennen. Anna und Stephan würden dinieren. Möwenfrikassee. Trotz allem eine großzügige Gabe; der Vogel, den Eric auf Sylvians Scheiterhaufen geworfen hatte – sie hätten ihn essen können.
Was würden Anna und Stephan sagen?
Rachaela ist weg.
Hatte sie ihnen einen fürchterlichen Schlag zugefügt? Sie wollte nicht an sie denken. Rachaela ging zurück zu ihrem Zimmer in dem kleinen Hotel. Das Bad lag am Ende des Korridors, doch man hatte ihr gesagt, dass es um diese Jahreszeit keine weiteren Gäste gab und sie es ganz für sich haben würde. Sie ließ sich Badewasser ein. Sie rasierte Arme und Beine und wusch ihr Haar, fürchtete trotz aller Versicherungen die ganze Zeit, dass jemand an die Tür klopfen würde. Zuletzt wusch sie ihre Unterwäsche und nahm sie zum Trocknen mit auf ihr Zimmer.
Die Zentralheizung in dem kleinen Raum war nur lauwarm.
Sie legte sich ins Bett. Ihr war kalt.
Es fing an zu regnen, und sie war froh darüber. All die Kneipenrunden und Pizzamahlzeiten im Freien, von dem Regenguss zunichte gemacht. Das Geräusch von nassen Autos, die durch Pfützen rasten, hörte nicht auf.
Um Mitternacht hörte sie die Kirchenglocke läuten.
Die Uhr stimmte mit ihrer Armbanduhr überein, und es war Dienstag. Im Spiegel über der Kommode würde sie sich selbst sehen können.
Sie lag in embryonaler Haltung zusammengerollt und zitternd in dem eisigen Bett.
Schlaf gut.
Am Morgen wurde sie von den Straßenkehrern geweckt, die vor dem Hotel brüllten und lärmten.
Es war halb acht.
Sie stand auf und zog sich an, und um acht Uhr kam ihr Frühstück – Brötchen und lauwarmer Kaffee –, widerwillig überbracht von einem blässlichen, lippenstiftbemalten Mädchen. Obwohl nur warm, war der Kaffee eine Wohltat. Was sollte sie nun mit diesem Tag anfangen?
Sie konnte sich natürlich verstecken wie der Spion in einem Roman, aber schon allein bei dem Gedanken an zehn oder mehr Stunden in diesem Schlafzimmer wurde sie leicht hysterisch. Außerdem kam der Zimmerservice und erwartete, dass die Gäste während dieser Zeit außer Haus waren.
Also musste sie ausgehen.
Rachaela stopfte die schweren Sachen aus ihrer Tasche in die Kommodenschublade. Zahnpasta, Bürste, Kosmetikartikel und andere Sachen hatte sie wie Zinnsoldaten darauf aufgereiht. Am liebsten hätte sie alles mitgenommen, kämpfte den Drang jedoch noch rechtzeitig nieder.
Der Tag draußen war grau und gelb. Auf den Bürgersteigen dominierten Regenschirme. Die Menschenmenge war jedoch keineswegs kleiner geworden; Männer mit Einkaufstaschen und Frauen mit Kinderwagen, in denen von Plastiküberzügen umgebene Babys verächtlich auf die herumgeschubsten, ungeschützten Erwachsenen blickten, die sie selbst einmal sein würden. Rachaela bewegte sich vorsichtig, versuchte, die nur halb erschlossene Straßenkarte in ihrem Kopf zu behalten.
Sie betrat Geschäfte und inspizierte fünfzig Jahre alte Antiquitäten, Wollmäntel und blaue Enten mit Blumendekors auf ihren Rücken.
Zur Mittagszeit ging sie in eine Imbissbude und aß einen trockenen Salat mit noch trockenerem Schinken. Doch sie hatte schon so lange keinen Schinken mehr gegessen. Er war salzig und fett. Sie hatte vergessen, dass Schinken so schmeckte. Am Meer. Es war in Ordnung. Nur noch heute, und ein weiterer Tag, dann konnte sie den Zug nehmen.
Sie sollte versuchen,
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