Schwarzer Tod
eines hölzernen Barackengebäudes und lauschte. Zunächst hörte er nur den Wind, der von der Recknitz herüberwehte. Anna Kaas hatte recht gehabt: Hier war er stärker als im Schutz der Bäume.
Stern brauchte eine Weile, bis er das andere Geräusch, das er hörte, vom Wind trennen konnte; aber dann identifizierte er es: Schnarchen. Lautlos bewegte er sich an den Baracken vorbei.
Eine Kombination aus Heimlichkeit und Kühnheit hatte ihn so weit kommen lassen. Kurz bevor er den Zaun an der Rückseite von Totenhausen erreicht hatte, war er an drei langen, flachen Gruben vorbeigekommen, die unter den Bäumen lagen. An den Geruch von verbranntem Fleisch erinnerte er sich noch aus Nordafrika, und er wußte, um was es sich bei diesen Gruben handelte.
Durch die Bäume kam er auf eine Idee. Große Nadelhölzer wuchsen an drei Seiten des Lagers bis an den elektrischen Zaun heran. Da Stern sich außerhalb des Lagers befand, warf er sich einfach seine Schmeisser über die Schulter, erklomm eine Tanne, rutschte über einen Zweig und ließ sich neben der Scheune, in der sich die Gasfabrik verbarg, in den Schnee fallen.
Bevor die Furcht ihn aufhalten konnte, richtete er sich auf und marschierte zum Tor, das die Fabrik vom Lager selbst trennte. Hier stand eine Wache, ein SS-Mann, der die Uniform der Totenkopfverbände trug. Stern wollte schon seine Papiere herausholen, aber seine SD-Uniform und das Eiserne Kreuz waren offenbar die einzige Identifikation, die er benötigte. Er stieß ein schneidiges »Heil Hitler!« hervor, als er an dem ehrfürchtig erstarrten Wachtposten vorüberging.
Es war nicht schwer, sich im Lager zu orientieren. Stern ging zielstrebig weiter, um die Männer auf den Wachtürmen nicht mißtrauisch zu machen, und durchquerte die Gasse, die das Krankenhaus vom E-Block trennte, wandte sich dann nach links und marschierte zu dem Maschendrahtzaun, der die Gefangenenbaracken umschloß. Er wanderte am Zaun entlang, bis er eine Stelle fand, die man von den Türmen aus nicht einsehen konnte. Zwar stand ein Posten Wache am hinteren Lagertor, aber er blickte in den Wald hinaus. Stern sah keine Isolatoren an dem Zaun, also stand er auch nicht unter Strom. Rasch kletterte er hinauf und ließ sich auf der anderen Seite wieder herunterfallen.
Stern hörte das Schnarchen in der ersten Baracke. Das gleiche Geräusch erfüllte auch die drei nächsten Blocks. Nur in der fünften Baracke sah er einen schwachen gelben Schein wie von einer Kerze, als er durch einen Spalt in der Tür spähte. Dann hörte er eine flüsternde Stimme. Seine Nackenhaare richteten sich auf.
Die Stimme sprach Jiddisch.
Stern holte tief Luft und legte den Zeigefinger an den Abzug der Schmeisser. Dann richtete er sich auf und betrat die Baracke.
Die Kerze erlosch sofort, und er hörte ein hastiges Scharren, fast wie von Ratten in der Wand. Schließlich herrschte Ruhe. Die Luft war stickig und roch nach feuchter Wolle und Desinfektionsmitteln.
»Hören Sie zu«, sagte er leise in Jiddisch. »Sind hier nur Juden?«
Niemand antwortete.
»Hören Sie. Ich bin nicht das, was ich zu sein scheine. Bitte, sind hier nur Juden?«
Stille.
Er wünschte, er hätte die SD-Uniform draußen abgelegt.
»Ich bin selbst Jude«, sagte er. »Ich bin aus Palästina nach Deutschland gekommen. Ich bin ein Spion, und ich will die Wahrheit über das herausfinden, was die Nazis unserem Volk antun.«
Stern wurde klar, daß er die Gefangenen nicht mehr hätte in Staunen versetzen können, wenn er behauptet hätte, der von Gott gesandte Messias zu sein. Er sah den schwachen Glanz von Augen, die ihn entsetzt und erstaunt aus der Dunkelheit heraus anstarrten.
»Wer ist hier der Leiter?« wollte er wissen.
»Unsere Sprecherin ist tot, SS-Mann«, erwiderte eine barsche Stimme aus dem Dunkeln. Sie gehörte einer Frau. »Das wissen Sie genau.«
»Wer hat da gesprochen? Bitte, ich bin nicht hier, um Ihnen etwas anzutun, aber ich habe nicht viel Zeit.«
»Sie wissen, wer wir sind«, zischte eine andere Stimme. »Was wollen Sie, SS-Mann?«
»Das hier ist eine Uniform des Sicherheitsdienstes, nicht der Totenkopfverbände«, erklärte Stern gezwungen ruhig. »Aber ich gehöre nicht zur SS. Ich bin ein Jude aus Rostock, der nach Palästina geflohen ist, und ich bin bereit, das jedem zu beweisen, der mit mir redet.«
»Dann beten Sie das Kaddisch für alle, die Sie ermordet haben«, forderte ihn jemand heraus.
Stern begann. »Yisgadal v'yiskadash sh'may rabo, B'olmo deev'ro
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