Schwarzer Tod
hat Brandt mehrere Rückenmarkpunktierungen durchgeführt, um die Gehirnflüssigkeit zu untersuchen. Er war wütend über die Langsamkeit seiner eigenen Formel im Vergleich zur Wirkung von Sulfadiazin. Die Kinder hatten vor diesen Rückenmarkpunktierungen sehr viel Angst und mußten von Ariel Weitz und den SS-Männern festgehalten werden. Am sechsten Tag hat Brandt eine direkte Injektion seiner Formel ins Rückenmark eines Kindes vorgenommen. Das führt mich zu der Annahme, daß sein geheimes Medikament nicht mit
Sulfonamiden verwandt ist, weil bei diesen eine lokale Therapie nicht nötig ist. Brandt plant außerdem, dieses ganze Experiment in einer Woche zu wiederholen. Dabei will er eine andere Formel einsetzen. Außerdem ist gestern eine Kiste mit polyvalentem Pferdeserum angekommen ...
McConnell blickte von dem Tagebuch hoch. Jetzt erst wurde ihm klar, daß er unter Schock stand. Es gab hier mindestens ein Dutzend verschiedene Einträge, die ähnliche Experimente an Kindern beschrieben, und Verweise auf mehr als 50 Versuche, die Brandt und seine Assistenzärzte durchgeführt hatten. Alle waren hier bis ins letzte Detail beschrieben. Aber was McConnell am meisten entsetzte, war die Tatsache, daß all diese Experimente keinerlei stichhaltigen medizinischen Grund hatten. Es war bekannt, daß man Meningitis durch Sulfadiazin heilen konnte. Quälte Klaus Brandt Kinder nur, um eine neue pharmakologische Formel zu testen, die ihn nach dem Krieg reich machen sollte?
McConnell schloß die Augen und legte die Fingerspitzen an die Schläfen. Wie konnte Anna Kaas diese Dinge nur so gefühllos aufschreiben? Er hatte in diesen Aufzeichnungen danach gesucht, was auf Schuldgefühle oder Ekel hingedeutet hätte, aber nach den ersten Einträgen waren alle Verweise auf Annas eigene Perspektive verschwunden. Dann verstand er, was sie damit bezweckte. Die deutsche Krankenschwester verstand sich als eine Art Chronist. Sie beschrieb, was sie sah, auf eine Art und Weise, wie sie vor Gericht üblich war. Wenn sie Gefühle in ihre Beschreibungen mischte, würde das der Aufarbeitung dieses Themas nach dem Krieg nur schaden.
Trotzdem fiel es McConnell schwer, zu verdauen, daß Anna daneben gestanden hatte, während solche Greueltaten an unschuldigen Kindern begangen wurden, ja, daß sie sogar an ihnen teilgenommen hatte. Er sehnte sich nach einem Ausdruck von Qual oder einer Bitte um Vergebung, ganz gleich wie ungenügend oder ungelenk formuliert sie auch sein mochte -nach einem Beweis für die verletzliche Seele, die ein jeder Mensch sein eigen nennt. Aber bis jetzt hatte er noch nichts dergleichen gefunden.
Eines wußte er jedoch genau: Wenn er lebendig aus Deutschland herauskommen sollte, würde er dieses Tagebuch mitnehmen.
Jonas Stern saß stumm vor Entsetzen in einer Ecke des jüdischen Frauenblocks. Mehr als 40 Frauen drängten sich um ihn. Auf dem Boden flackerte eine Kerze. Er hatte noch nie zuvor solche Augen gesehen, nicht einmal in den Gesichtern der Soldaten, die mitten im größten Gemetzel entmannt worden waren. Es waren Augen wie schwarze Spiegel, gleichzeitig flach und bodenlos. Würde er seinen Finger auf ein solches Auge legen, dann würde es zerbersten und in eine schwarze Grube des Leids von unermeßlicher Tiefe fallen. Dieses Gefühl hatte er.
In seiner kurzen Zeit hier hatte er viel in Erfahrung gebracht. Er hatte ein paar Fragen nach der Geschichte der Frauen gestellt, hauptsächlich, um die Fiktion aufrechtzuerhalten, daß er Informationen für die zionistischen Führer in Palästina und London sammelte. Aber nachdem er einige der Antworten gehört hatte, verdrängte das alles andere. Jede Antwort war eine Variation desselben Themas: Es ging uns gut; Hitler kam an die Macht; die Reichen sind geflohen; die Nazis kamen in unsere Stadt, unser Dorf, unser Viertel, unser Haus, unsere Wohnung; sie töteten meinen Vater, meine Mutter, meinen Mann, meine Söhne, meine Onkel, meine Schwestern, meine Tochter, meine Großeltern. Und fast alle Geschichten endeten mit demselben Satz: Ich bin die letzte meiner Familie.
Stern erfuhr auch vom Tod der Blocksprecherin und den darauf folgenden brutalen Vergeltungsmaßnahmen, die den Block vollkommen durcheinandergewirbelt hatten. Und er hörte, daß die junge Holländerin, die ihn befragt hatte, mangels Bewerbern die Position der toten Polin eingenommen hatte. Er wollte gerade die Frage stellen, für die er sein Leben riskiert hatte und wegen der er hergekommen war, als sie
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