Schwarzer Tod
Wodkaflasche von der Anrichte. »Ich komme mit«, sagte sie. »Vermutlich warten wir beide auf dasselbe.«
»Und was genau ist das?«
»Die Alarmsirenen von Totenhausen. Wenn Stern den Angriff ausführt, werden wir die Sirenen selbst im Keller hören.«
McConnell ging die Treppe hinunter voraus und zündete die Gaslampe an. Dann setzten sie sich auf das Sofa, auf dem er die Nacht zuvor geschlafen hatte, halb versteckt hinter den Kisten und den alten Maschinen.
»Kann ich Sie etwas fragen?« sagte er. »Sie müssen natürlich nicht antworten, wenn Sie nicht wollen. Aber ich bin einfach neugierig.«
Anna sah auf den Boden und lächelte traurig. »Sie meinen, warum ich gegen die Nazis arbeite? Ja?«
»Ja. Sie müssen zugeben, daß das nicht viele Deutsche tun.«
»Oh, das gebe ich gerne zu. Die wenigen, die Mut hatten zu kämpfen, wurden schon sehr früh zur Strecke gebracht. Der Rest läßt sich in zwei Kategorien aufteilen: Diejenigen, die die neue Ordnung lieben, und diejenigen, die einfach nur den Weg des geringsten Widerstandes gehen. Letzteres ist eine hochentwickelte Eigenschaft des politischen Charakters der Deutschen.«
»Aber bei Ihnen ist es anders.«
Anna genehmigte sich einen ordentlichen Schuß Wodka in den Kaffee. »Es hätte aber so sein können.« Sie trank. »Es hat sich halt nur nicht so ergeben. Das Merkwürdige ist, was mich verändert hat. Ich habe eben wieder daran denken müssen, als Sie über sich und Stern geredet haben - daß Sie beide zusammen einen perfekten Soldaten ausmachen würden.«
»Was meinen Sie damit?«
»Was mich anders gemacht hat als andere Deutsche. Es war natürlich ein Mann.«
»Ein Mann wie ich und Stern zusammen? So einen Menschen kann ich mir schwerlich vorstellen.«
Sie lachte. »Der Mann glich eher Ihnen als Stern. Er war sogar ein Doktor.«
»Ein Arzt?«
»Ja. Aber er war auch Jude.«
Anna sagte das mit einem gewissen Trotz, und das war das letzte, was McConnell erwartet hatte. Er wußte nicht, was er sagen sollte; aber er wollte die Geschichte hören. »War das in Dornow?«
»Nein, in Berlin. Ich bin in Bad Sülz aufgewachsen, nicht weit von hier. Meine Eltern waren Bauern. Sie waren zwar gut situiert, aber ziemlich provinziell. Meine Schwester und ich hatten Größeres im Sinn. Mit 17 bin ich nach Berlin gegangen, um ein gebildetes Großstadtmädchen zu werden. Nachdem ich meine Ausbildung zur Krankenschwester beendet hatte, habe ich bei einem Allgemeinmediziner in Charlottenburg angefangen zu arbeiten. Er hieß Franz Perlman. Das war 1936. Die Nürnberger Gesetze waren damals schon erlassen, aber ich war ein verrücktes Mädchen. Ich hatte keine Ahnung, wie unheilvoll das alles war. Die antijüdischen Maßnahmen wurden auf verschiedenen Gebieten verschieden schnell durchgesetzt, und viele jüdische Ärzte praktizierten noch. Franz hatte wohl zuviel zu tun, um anfangs zu bemerken, was wirklich vor sich ging. Er arbeitete von morgens bis abends und nahm alle Patienten an, Juden, Christen, alle.«
Anna trank einen Schluck und sah ins warme Licht der Gaslampe. »Wir waren zu dritt: Franz, die Empfangsdame und ich. Sie können sich sicher vorstellen, wie so etwas passiert, nicht wahr? So ungewöhnlich ist das doch nicht, oder? Ein Arzt und eine Krankenschwester? Ich war damals 20. Ich habe mich in der dritten Woche in ihn verliebt, was auch nicht weiter schwer war. Franz war ein freundlicher und hingebungsvoller Mann. Zuerst hat er versucht, mich zu entmutigen. Er war Witwer und um einiges älter: 44. Mir war das egal. Ich habe auch niemals einen Gedanken daran verschwendet, daß er ein Jude war. Nach etwa einem Jahr hat er aufgehört, mich zu entmutigen. Der arme Mann. Ich war schamlos. Ich wollte ihn heiraten, aber davon wollte er nichts wissen. Er wollte sogar noch nicht einmal mit mir außerhalb des Büros gesehen werden. Er hat sich in der ganzen Zeit nur zweimal in meine Wohnung geschlichen und mir niemals erlaubt, in seine zu kommen.
Nach einer Weile wurde ich wütend auf ihn, auf seine Weigerung, mich zu heiraten, sogar auf all die Geheimniskrämerei. Eines Tages hat er mir die Augen geöffnet. Er erzählte mir von all seinen Freunden, die unter Zwang ihren Beruf hatten aufgeben müssen oder die einfach verschwunden waren. Zuerst glaubte ich ihm nicht. Ich lebte wie ... wie in einem Traum. Jüdische Professoren waren bereits aus den medizinischen Universitäten verdrängt worden. Franz hatte Drohbriefe erhalten. Er zeigte mir einige. Erst jetzt
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