Schwarzer Tod
erfolgreich Abstand zu diesen Verbrechen gewinnen; aber die Verbrechen selbst würden weitergehen. Sie würden weitergehen wie zuvor, nur daß niemand mehr sie bemerkte, der davon erschüttert wurde wie ich. Ich habe mich wie ein kleiner Fisch gefühlt, der in einer gewaltigen Welle schwimmt. Ich konnte versuchen, in die andere Richtung zu schwimmen, aber die Welle donnerte weiter. Viele Tage habe ich kaum gesprochen. Dann kam ich zu dem Schluß, daß ich all das nur aus einem Grund gesehen hatte: um Zeugnis abzulegen! Um aufzuschreiben, was ich gesehen habe. Das habe ich getan, und ich mache es auch weiter. Ich habe mich Dingen gegenüber verhärtet, die selbst einen Mörder beschämen würden. Aber ich denke nicht mehr an Selbstmord. Jetzt bete ich nur, daß ich den Krieg überlebe. Ich bete, daß mein Tagebuch die Schlinge sein wird, die irgendwann Klaus
Brandt sein fettes Genick bricht. Ich mache mir manchmal Sorgen, daß ich nicht mehr zu retten bin, daß ich in den Augen Gottes verdammt bin. Aber immer öfter frage ich mich, ob Gott diesen Ort überhaupt wahrnimmt. Wie könnte Gott im selben Universum existieren wie das Lager Totenhausen?
McConnell schloß das Tagebuch. Er hatte die Beruhigung gefunden, die er gesucht hatte. Selbst in diesem Schmelztiegel menschlicher Verworfenheit hatte ein gewisses Maß an Hoffnung und menschlicher Integrität überlebt. Anna Kaas hatte gegen den Wahnsinn rebelliert, den sie beschrieben hatte. Aber ihre Rebellion war nicht das leere Wimmern der politischen Dilettanten. Sie hatte nicht mit nutzlosen, moralisierenden Worten um sich geworfen und sich dann ins Schneckenhaus der Selbsttäuschung zurückgezogen. Genauso wenig hatte sie einen mutigen, aber sinnlosen Akt der Selbstaufopferung begangen, wie es McConnell vielleicht getan hätte. Sie hatte etwas viel Schwierigeres getan. Anna Kaas hatte ihre Menschlichkeit geopfert, um das einzige zu versuchen, was vielleicht eine Wirkung auf die Männer haben könnte, die diesen Schrecken erschufen, dessen Zeugin sie jeden Tag wurde. Sie wollte der Welt erzählen, was sie taten.
Als McConnell das begriff, verstand er auch noch etwas anderes: Anna Kaas hatte etwas bewerkstelligt, was niemandem zuvor jemals gelungen war. Sie hatte McConnells fundamentalen Glauben an die Sinnlosigkeit von Gewalt ins Wanken gebracht. Sein ganzes Leben lang hatte er mit seinem Vater gegen den Krieg gekämpft; aber heute abend hatten einige schlicht geschriebene Worte ein kaltes Licht in ihm erzeugt, dessen Schein ihm etwas Schlimmeres enthüllt hatte als den Krieg - oder vielleicht eine neue Art von Krieg. Einen Krieg der Menschheit gegen sich selbst. Einen verzehrenden Wahnsinn, der nur in einer vollständigen Vernichtung enden konnte. McConnells medizinische Bildung lieferte ihm die perfekte Metapher dafür.
Krebs.
Das System, das in Totenhausen und Dutzenden anderer Lager, von denen er in dem Tagebuch gelesen hatte, geschaffen worden war, war eine bösartige Geschwulst, die sich in der menschlichen Rasse ausbreitete. Sie bewegte sich heimtückisch, unter der Deckung eines eher gewöhnlichen Wahnsinns, aber sie würde letztendlich alles zerstören, was ihr im Wege stand. Und wie jedes andere Geschwür, so konnte auch dieses nicht aufgehalten werden, ohne auch gesundes Gewebe zu entfernen.
Während er mit dem geschlossenen Buch auf dem Schoß auf dem Sofa hockte, kam McConnell zu einem Schluß, der für ihn vor diesem Abend undenkbar gewesen wäre: Wenn sein Vater, ein Arzt und Kriegsveteran, der 20 Jahre lang Gewaltlosigkeit gepredigt hatte, durch irgendwelche Magie Anna Kaas' Tagebuch lesen könnte und dann Klaus Brandt Auge in Auge gegenüberstehen würde ...
Er würde ihn wie einen tollwütigen Hund erschießen.
»Zum letzten Mal, ich kann es nicht tun!« sagte Stern. »Es grenzt schon an ein Wunder, wenn ich hier lebend wieder herauskomme. Mit einem Kind hätte ich keine Chance.«
Er zwang sich, den Blick von Rachel Jansens Gesicht loszureißen. Das leidenschaftliche Feuer in ihren Augen war erloschen. Wo Hoffnung gewesen war, sah Stern jetzt nur noch Asche. »Ich möchte Sie etwas fragen«, sagte er. »Sie alle. Kommen Sie näher.«
Die grauen Gesichter rückten dichter an ihn heran.
»Was denn?« fragte Rachel.
»Ich bin an einem besonderen Mann interessiert. An einem Juden aus Rostock. Wir haben Berichte erhalten, daß er hier im Lager gestorben ist. Ich möchte wissen, ob eine von Ihnen mir etwas über ihn erzählen kann. Ob Sie sich
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