Schwarzer Tod
wollen sie uns etwa aus der Luft bombardieren?«
»Nein.«
»Nein? Was denn?«
»Gas.«
»Gas? Giftgas? Wie können sie das tun?«
Anna sah ihn mit blutunterlaufenen Augen an. »Es ist besser, wenn Sie das nicht wissen.« Sie stand auf. »Ich muß hier weg.«
Weitz versperrte ihr den Weg. »Sie können nirgendwo hingehen! Sie würden alles ruinieren! Alles, was ich getan habe, wäre umsonst gewesen.«
»Ich habe Sie nicht gebeten, etwas zu tun!«
Weitz lächelte kalt. »Verstehe. Sie wünschen sich, selbst dort oben am Baum zu hängen? Sie haben nicht gesehen, was sie der kleinen Greta angetan haben.«
Anna schüttelte sich. »Besser ich als irgendein unschuldiges Mädchen.«
»Ha! Von uns hier ist keiner unschuldig. Selbst wenn wir gegen sie gearbeitet haben, haben wir doch schweigend daneben gestanden, während es passierte. Wir haben mitgemacht. Hier in diesen Gebäuden gibt es keine reinen Seelen. Außer den Kindern. Vergießen Sie keine Tränen für Fräulein Müller.«
»Sie machen mich krank!« zischte Anna. »Gehen Sie weg! Gehen Sie weg, Sie ... Sie schmutziger Jude!«
Weitz schlug die Hände zusammen wie ein Affe. »Haha!
Sehen Sie? Wir haben sechs Monate zusammengearbeitet, Sie und ich. Wir haben Pläne geschmiedet und Listen ersonnen; wir haben diesen Angriff möglich gemacht, und am Ende sind Sie die Deutsche und ich der schmutzige Jude!«
Anna hob die Hände. »Ich habe das nicht so gemeint, Herr Weitz. Ich habe nichts gegen Juden. Ich habe einmal einen geliebt.«
Weitz kicherte noch lauter. »Aber natürlich! Jeder Deutsche hat seinen Lieblingsjuden. Den einen, der es nun wirklich nicht verdient hat, ins Gas zu gehen. Aber irgendwie enden wir dann doch alle da.«
»Alle außer Ihnen«, sagte sie grausam.
»Oh, ich komme schon noch früh genug dorthin; aber ich werde ein paar Deutsche mitnehmen.«
Anna hatte keine Lust herauszufinden, was er damit meinte. »Ich kann Brandt heute nicht ertragen«, sagte sie. »Schörner und Sturm genausowenig. Keinen von ihnen!«
»Schörner werden Sie letztlich gegenübertreten müssen«, erklärte er. »Gehen Sie, und setzen Sie sich eine Weile auf die Kinderstation. Das sollte Ihre Entschlossenheit wieder stärken. Gehen Sie, und setzen sie sich zu dem kleinen Jungen, den Brandt als lebenden Nährboden für Bakterienkulturen benutzt. Er ist mittlerweile taub und stumm von der Meningitis. Das sollte Sie daran erinnern, warum wir das hier tun! Was bedeutet das Leben von Greta Müller im Vergleich zu denen der zahllosen Kinder, die hier vor unseren Augen ermordet worden sind?«
»Ich kann es so nicht sehen«, flüsterte Anna.
»Dann denken Sie nicht darüber nach. Spielen Sie einfach Ihre Rolle ein paar Stunden, und gehen Sie dann nach Hause. Sie können den letzten Akt ruhig verpassen.«
»Was werden Sie tun?«
Weitz legte die Hand auf den Türgriff. »Vermutlich sterben; aber vorher erledige ich noch Klaus Brandt. Gas ist für dieses Schwein zu gut. Seit Jahren träume ich davon, wie ich ihn töten würde, wenn ich die Chance dazu bekäme.« Weitz hob einen Zeigefinger mit einem langen, schmutzigen Fingernagel. »Ich verspreche Ihnen, daß Sie sich das ganz bestimmt nicht ansehen wollen.«
Hans Joachim Kleber war der stellvertretende Polizeichef des Dorfes Dornow. Er fand, daß ein Siebzigjähriger viel zu alt war, um eine vereiste Eisenleiter in einen Abwasserkanal hinunterzuklettern. Aber er hatte keine Wahl. Kleber hatte die Stelle Ende 1943 angetreten, nachdem die letzten Männer von Dornow, die unter 60 waren, zur Wehrmacht eingezogen worden waren. Und da in Dornow nichts Illegales passierte, jedenfalls nicht, seit die SS auf der anderen Seite des Hügels das Lager gebaut hatte, war er für die Aufrechterhaltung des elektrischen Lichts und die Wartung der Abwasserkanäle verantwortlich. Er beschwerte sich auch nicht. Die Arbeit warf genug ab, um sich Zigaretten kaufen zu können.
Kleber stöhnte, als seine Gummistiefel im kalten Schlamm am Boden der Leiter versanken. Wenigstens stank es im Winter nicht so entsetzlich. Die Beschwerden waren seit dem Mittag aufgelaufen. Verschiedene Familien in Dornow hatten Schwierigkeiten mit rücklaufenden Abwässern, und das gefiel ihnen gar nicht. Also war Kleber von seinem warmen Kamin weggerufen worden und mußte nun mit seiner Wehrmachtslampe die schmutzigen Kanäle durchstöbern.
Der alte Mann leuchtete nach Süden, wo der Inhalt des Tunnels sich nach anderthalb Kilometern in die Recknitz ergoß.
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