Schwarzer Tod
überprüfte den Sitz des Eisernen Kreuzes auf der Brust und vergewisserte sich, daß seine Papiere in der Tasche steckten.
Während Stern sein Spiegelbild anstarrte, konnte er verstehen, daß sein Vater ihn zunächst nicht erkannt hatte. Obwohl er sich am Nachmittag rasiert hatte, schienen das Gesicht und die Augen unter der Schirmmütze des SD einem Mann zu gehören, den er nicht kannte.
Vielleicht stimmte das ja auch. In den letzten drei Tagen war so viel passiert. Der Besuch in Rostock hatte ihn am schlimmsten getroffen. Daß er seinen Vater lebend vorgefunden hatte, war ein Wunder gewesen, und doch hatte es ihn nicht ganz so überrascht, wie man hätte erwarten können. Solche Wunder hatte er im Krieg schon oft erlebt. Aber der Abstecher nach Rostock, in die Gegend, wo er bis zu seinem 14. Lebensjahr gelebt hatte, war überwältigend gewesen. Obwohl seine Mutter und er voller Angst aus Deutschland geflohen waren und obwohl er genausogut wie jeder andere den Wahnsinn kannte, der sich gegen die Juden richtete, die geblieben waren, hatte ein Teil von ihm immer an dieser Gegend gehangen, an diesen paar Straßen und Gebäuden, zwischen denen er aufgewachsen war. Dieser Ort der Erinnerung war für ihn immer das alte Deutschland gewesen.
Als er seine Straße betreten hatte, hatte er erwartet, das alte Mietshaus in Schutt und Asche liegen zu sehen. Statt dessen jedoch stand es stolz und groß wie immer da, und Hoffnung war in ihm aufgekeimt. Mit dem naiven Glauben des Narren war er die Treppe zum ersten Stock hinaufgestiegen, hatte mit jedem Schritt die Jahre abgeworfen und seinen Zynismus in dem gestohlenen Wagen zurückgelassen, der am Bordstein parkte. Aber als er an die Tür klopfte, die er früher nicht einmal aufmachen konnte, weil er zu klein gewesen war, wurde sie nicht von seiner Mutter, seinem Vater oder seinem Onkel geöffnet oder von sonst jemandem, an den er sich erinnern konnte, sondern von einem bebrillten Mann von etwa 60 Jahren mit weißen Haaren und Suppenflecken auf dem Hemd.
Stern stand stumm da und starrte an dem Fremden vorbei in die Wohnung. Die Möbel waren noch dieselben, mit denen er aufgewachsen war. Das Sofa seiner Mutter, die Couchtische, die Bücherregale seines Vaters und selbst die Wanduhr. Er schwankte ein bißchen, als alles sich plötzlich vor ihm drehte. Der Fremde fragte, ob es dem Sturmbannführer gut gehe. Als Stern sich auf das Gesicht vor ihm konzentrierte, bemerkte er, daß der Mann vor Angst zitterte. Die Wirkung der SD-Uniform war beeindruckend.
Stern entschuldigte sich, und sein Blick fiel auf die beiden blonden Kinder hinter dem älteren Mann. Der Junge war erst halb angezogen, aber das Wams, das ihm offen von den Schultern hing und seine weiße Brust entblößte, zeigte das vertraute Schwarz der Hitlerjugend. Er trug es genauso unbefangen, wie ein britischer Junge eine Pfadfinderuniform getragen hätte.
Stern wäre fast die Treppe hinuntergefallen, so eilig hatte er es gehabt, zum Wagen zurückzukommen. Lieber wäre es ihm gewesen, wenn die ganze Straße von den Bomben der Alliierten eingeebnet und all seine Verwandten unter dem Schutt begraben worden wären. Der Anblick dieser Wohnung, gefüllt mit den Möbeln aus seiner Vergangenheit, aber ohne die Menschen, die er gekannt hatte, war wie ein Hieb in diesen versteckten Teil von ihm eingeschlagen, der das geblieben war, was er als Kind gewesen war: jener Teil, der deutsch geblieben war. Als er den Wagen auf die vertraute Straße lenkte, verstand er zum ersten Mal etwas wirklich: Er war kein Deutscher. Er war ein Jude. Ein Mann ohne Land, ja, ohne Heim. Ein Mann, der nur das war, was er aus sich machen konnte, der nur das Land sein Heimatland nennen durfte, das er sich nehmen und mit Waffengewalt halten konnte.
Annas Stimme drang aus der Küche und riß Stern aus seinen Gedanken. Er setzte die SD-Mütze verwegen schräg auf den Kopf, nahm seine Schmeisser und ging in die Küche. McConnell und die Krankenschwester saßen am Tisch. Sie hatten kaum mit ihm gesprochen, seit er versucht hatte, Sabine zu erschießen, die jetzt wie ein Truthahn verpackt im Keller lag. Aber das bedauerte er nicht. Im Gegenteil: Die Frau am Leben zu lassen war ein Fehler. Wenn sie das nicht einsahen, konnte er es auch nicht ändern.
»Wie sehe ich aus?« erkundigte er sich.
»Wie einer von ihnen«, antwortete Anna. »Bis auf die Sonnenbräune. Vielleicht sind Sie ja sogar einer von ihnen.«
Stern ignorierte sie. Er legte die Schmeisser auf
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