Schwarzer Tod
doch Rachel ließ sich davon nicht trösten. Die Vorstellung, daß Jan oder Hannah praktisch jeden Moment auf dem Appellplatz ausgewählt und zum »Krankenhaus« gebracht werden konnten, um ihnen tödliche Erreger zu infizieren, war einfach zu entsetzlich, um sie einfach zu ignorieren. Der Gedanke, daß irgendeinem Kind das zustoßen konnte, und daß sogar welche in eben dieser Nacht qualvoll im Krankenhaus starben, brachte Rachel an den Rand der Panik. Sie widmete jetzt jeden wachen Moment der Suche nach einem Weg, um ihre Kinder vor diesen Experimenten zu schützen.
Ein plötzliches Schluchzen aus dem Kreis riß Rachel aus ihren Gedanken. Eine Zuhörerin war von den Worten der Sprecherin in Tränen ausgebrochen. Rachel wurde unwillkürlich von einer morbiden Faszination ob der Erzählung gefangen. Sie war so viel entsetzlicher als ihre eigene Geschichte. Es machte sie nervös, wenn sie nur daran dachte, was sie erzählen sollte, wenn sie an der Reihe war.
»Die Lastwagen standen auf dem Marktplatz«, berichtete die Frau, die entschlossen auf die kahlen Bodenbretter starrte, als sähe sie dort eine Miniaturausgabe ihres Dorfes. »Die SS hat alle aus ihren Häusern geprügelt. Diejenigen, die zu langsam waren oder zögerten, um irgendwelche Wertsachen oder andere Dinge einzupacken, starben zuerst. Ich hatte den schlimmsten Gerüchten vom Vortag geglaubt und bereits eine Tasche gepackt. Überall hörte man Gewehrschüsse. Zunächst lösten sie Panik aus. Die meisten von uns liefen jedoch einfach zu den Lastwagen. Wir benahmen uns wie Vieh. Niemand wollte wissen, was die Schüsse bedeuteten. Mütter riefen nach ihren Kindern, und alleingelassene Kinder schrien erbärmlich. Die Männer fragten sich, was sie tun sollten, aber was konnten sie schon tun? Die SS hatte den Bürgermeister und den Polizeichef bereits erschossen.
Von der Pritsche des Lastwagens aus sah ich dann das Schlimmste: die Kinder ... die armen Säuglinge. Auf der Prager Straße töteten die Deutschen die Säuglinge auf der Stelle. Sie zerschmetterten ihre kleinen Köpfe mit Gewehrkolben oder packten sie an den Fersen und schlugen sie gegen die Wand. Ich habe selbst gesehen, wie ein SS-Scherge ein Kind von Hannah Karpik packte und dessen Kopf aufs Straßenpflaster schlug. Hannah wurde verrückt, riß sich büschelweise das Haar aus und schlug mit den Fäusten auf den SS-Mann ein. Nach ein paar Sekunden zog er seine Pistole und schoß sie in den Bauch. Dann ließ er sie auf der Straße verrecken.« Die Frau zuckte mit den Schultern. »So waren die Deutschen in Damosch.«
»In Lodz war es genauso«, fuhr eine Frau vom äußeren Rand des Kreises fort. »Sie hausten dort auch so, vielleicht sogar noch schlimmer. Während wir in mehreren Reihen auf dem Marktplatz standen, hat die SS einen Pritschenwagen gegen die Krankenhauswand gestellt. Wir wußten nicht, was sie vorhatten. Jemand im zweiten Stock öffnete ein Fenster. Dann flogen kleine Pakete heraus. Als das zweite Paket auf der Ladefläche des Lastwagens landete, begriffen wir, was es war. Sie warfen die Neugeborenen aus dem Fenster der Säuglingsstation. Zwei Stockwerke tief hinunter. Und sie lachten dabei.«
»Wie die Barbaren im finstersten Mittelalter«, sagte die erste Frau. »Unser Rabbi flehte zu Gott, uns zu erlösen, während ein junger Mann Gott doppelt so laut verfluchte. In dieser Nacht hatte ich das Gefühl, daß der Junge recht hatte. Wie konnte Gott diesem Schlachten einfach tatenlos zusehen?«
»Es ist immer dasselbe«, meinte eine andere Frau, deren Stimme deutlich älter klang als die der anderen. »Warum sollen wir es aufschreiben? Es ist dieselbe Geschichte, hundertmal, ja sogar tausendmal erzählt. Und niemanden kümmert es.«
»Genau deshalb müssen wir das alles aufschreiben«, erklärte Frau Hagan nachdrücklich. »Um später allen zu zeigen, was der Hunne wirklich tut. Selbst gute Männer tun im Krieg manchmal etwas Schlechtes. Aber bei der SS ist das die Regel. Es ist ihre Politik. Unsere Geschichte gesellt sich zu anderen Geschichten; jede ist dokumentiert, und jede legt Zeugnis ab für diesen Wahnsinn. Nur so wird es ihnen unmöglich gemacht, es später abzustreiten.«
»Später«, mischte sich eine körperlose Stimme spöttisch ein. »Was ist denn später? Wer wird dann wohl noch übrig sein, um unsere Papiere auszugraben, unsere Geschichten? Wer wird noch dasein, um zuzuhören? Den Deutschen wird bald die Welt gehören.«
»Halt dein dummes Maul«, befahl Frau
Weitere Kostenlose Bücher