Schwarzer Tod
das?«
»Da«, kam die Bestätigung auf russisch.
»Alle bleiben in ihren Kojen«, befahl Frau Hagan.
Rachel hörte ein gedämpftes Poltern, als die schwere Polin mit nackten Füßen aus ihrer Pritsche auf den Boden sprang. Frau Hagan durchquerte den Raum in völliger Dunkelheit und flüsterte mit der Kapo der christlichen Frauenbaracke. Nach kaum einer Minute öffnete und schloß die Tür sich wieder.
»Es wird wieder ein Kind vermißt«, verkündete Frau Hagan. »Ein Zigeunerkind.«
Die anderen reagierten mit Schweigen auf diese Erklärung.
»Ein Junge?« fragte schließlich eine ruhige Stimme.
»Ja. Acht Jahre alt.«
Rachel hörte ein Wimmern im Dunkeln.
»Es war die Mutter, deren Schreie wir gehört haben. Frau Komorowski hat befohlen, sie zu ihrem eigenen Schutz zu knebeln und an ihre Pritsche zu fesseln. Die Zigeunerin hatte ihr gesagt, daß sie zu Doktor Brandts Quartier gehen und ihren Sohn holen wollte.«
»Sie hat den richtigen Ort genannt«, bemerkte eine Stimme.
»Gott helfe dem Jungen«, sagte eine andere. »Es ist unvorstellbar!«
»War es dasselbe wie sonst?«
»Ein lettischer Politischer hat gesehen, wie Ariel Weitz am Vormittag mit dem Zigeunerjungen geredet hat«, antwortete Frau Hagan müde.
Rachel hörte Spucken und Fluchen in der Dunkelheit und Stimmen, die sich beinahe zu schnell abwechselten, als daß sie den Worten folgen konnte.
»Teufel!« zischte eine.
»Die Männer sollten diesen Wurm zerquetschen!«
»Wir könnten ihn selbst töten!«
»Redet keinen Unsinn!« sagte Frau Hagan. »Tötet Weitz, und wir werden alle sterben. Er dient Brandt, und deshalb schützt er ihn. Sturm schützt ihn ebenfalls, und selbst Schörner schützt ihn, obwohl er ihn verachtet.«
»Schörner benutzt ihn auch«, sagte eine wissende Stimme. »Weitz spioniert für Schörner.« »Wenn man sich vorstellt, daß er selber Jude ist«, meinte eine andere nachdenklich. »Weitz ist schlimmer als die SS. Tausendmal schlimmer.«
»Der Schuhmacher ist auch Jude«, bemerkte Frau Hagan.
»Der Schuhmacher macht Schuhe. Weitz sucht Kinder aus, die mißbraucht und dann getötet werden.«
»Und was ist mit dem letzten Jungen?«
»Vermutlich wurde er mit den Männern vergast«, spekulierte eine.
»Nein«, widersprach Frau Hagan. »Er ist letzte Woche erschossen worden. An der Grube.«
»Warum hast du uns das nicht erzählt?« fragte jemand bestürzt.
»Was hättest du tun können, Jascha?«
Erst jetzt begriff Rachel, daß Frau Hagan die Frauen am Klang ihrer flüsternden Stimmen erkannte.
»Genug geredet!« befahl die Polin abschließend. Nach kurzem Schweigen fuhr sie fort: »Du hast gite Ohren, Meisje. Irina hat sich gegen die Außenwand gedrückt, um dem Suchscheinwerfer zu entgehen. Hast du das gehört?«
Rachel schluckte. »Ich habe irgend etwas gehört. Ich habe in Amsterdam drei Jahre über einem Geschäft in einem Versteck gelebt. Jeden Tag sind Kunden ein und ausgegangen. Das leiseste Geräusch hätte uns gefährdet.«
»Du hast deine Lektion gut gelernt. Von jetzt an wirst du die Tür bewachen.«
Rachel schloß die Augen. War es gut, als Wache ausgewählt worden zu sein? Wenn sie dadurch in Frau Hagans Gunst stand, dann war es das vermutlich. Aber würde jetzt die Frau namens Heinke ihre Feindin?
»Hast du mich verstanden, Meisje?« hakte Frau Hagan nach.
»Morgen bewache ich die Tür.«
»Ja. Und jetzt schlaft. Alle.«
Rachel hörte das Knarren von sprödem Holz, als die Blocksprecherin wieder in ihre Pritsche kletterte. Seit ihrem zweiten Tag im Lager hatte Rachel die Männer mit den rosa Abzeichen, und auch alle anderen Männer, wie eine Mutterhenne beäugt, aber bis jetzt hatte sich niemand ihrem Jan unsittlich genähert. Konnte der Kommandant von Totenhausen tatsächlich die Gefahr bedeuten, vor der Frau Hagan gewarnt hatte? Konnte es zwei Arten von Selektion geben, die man überstehen mußte? Wenn ja, wie sollte sie ihren Sohn dann noch beschützen? Der Doktor hatte die Macht über Leben und Tod eines jeden Gefangenen. Den Tod ihres Mannes hatte er bereits angeordnet. Und wenn Klaus Brandt Jan mißbrauchen wollte, konnte sie nichts dagegen tun.
Ein Schauder der Verachtung durchfuhr sie, als sie sich an Ariel Weitz erinnerte. Wenn Weitz Brandts Kuppler war, konnte man ihn vielleicht bestechen, Jan in Ruhe zu lassen. Sie besaß fünf Diamanten. Aber selbst wenn sie Weitz kaufte, würde das helfen? Brandt wählte vermutlich seine Opfer aus, indem er einfach in seinem weißen Kittel
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