Schwarzer Tod
durchs Lager ging und vorgab, ein Heiler zu sein. Es war wirklich unvorstellbar und dennoch war es Realität. Rachel konnte nicht mit ihren Kindern unter den Fittichen nach Holland zurückfliegen. Sie mußte sich etwas überlegen.
Wo konnte eine Lüge helfen? Der Schuhmacher hatte bereits bewiesen, daß er Mitgefühl besaß, aber Rachel hatte den Mann in den letzten vier Tagen so gut wie nie zu Gesicht bekommen. Und Anna Kaas? Die junge Krankenschwester hatte offenbar Mitleid mit den Gefangenen. Wußte sie vielleicht einen Weg, Jan Leid zu ersparen? Rachel dachte an Jan und Hannah, die in der Baracke für Judenkinder nur ein paar Meter entfernt lagen. Eine sephardische Jüdin aus Saloniki schlief im Kinderblock, um dort für Ruhe zu sorgen. Beim Abendessen hatte Rachel ihr die Hälfte ihrer eigenen Brotration gegeben, und ihr dafür das Versprechen abgenommen, Hannah und Jan nebeneinander schlafen zu lassen. Kurz hatte sie mit dem Gedanken gespielt, der Frau eine ganze Wochenration im Austausch gegen ihren Job anzubieten, sich jedoch letztlich dagegen entschieden. Eine Woche ohne Brot würde sie auf die Straße des Hungers bringen, und auch wenn sie dann näher an ihren Kinder war, würde sie sich von den erwachsenen Frauen entfernen, die die Regeln des Überlebens kannten, vor allem von Frau Hagan. Als ein Schäferhund am Rand des Lagers jaulte, war Rachel zu dem Entschluß gekommen, daß die Blocksprecherin ihre Verbindung zum Leben war, ihre Brücke zum Verleben. Was Frau Hagan brauchte, würde sie von Rachel Jansen bekommen. Die Übernahme der Türwache war erst der Anfang.
16
McConnells Fahrer kam Punkt sechs Uhr in Oxford an, wie Brigadegeneral Smith es versprochen hatte. Eine Stunde später lieferte er seinen Fahrgast und zwei außerordentlich schwere Koffer am Eingang zur King's Cross Station in London ab, zusammen mit der Anordnung, den Zug Nr. 56 zu besteigen, der um 07:07 Uhr nach Edinburgh, Schottland fuhr.
Der Bahnhof hallte von den Stimmen der Dienstmänner aus zehn verschiedenen Ländern wider, die genausoviele verschiedene Uniformen trugen, und alle wirkten noch verlorener als Mark McConnell. McConnell konnte sich nicht vorstellen, wie er Smith in diesem Gewühl finden sollte, oder umgekehrt; doch als er um einen Kanadier herumging, der gerade damit beschäftigt war, sich tränenreich von einer Engländerin zu verabschieden, die fast einen Kopf größer war als er selbst, spürte Mark, wie jemand ihn am Ärmel zupfte. Als er sich daraufhin umdrehte, blickte er in die funkelnden blauen Augen von Duff Smith. Der SOE-Chef trug ein elegantes Tweedjackett, dessen linker Ärmel an der Schulter befestigt worden war.
»Heute nicht in Uniform, General?«
Duff Smith lächelte, sagte aber nichts. Er führte McConnell in ein Privatabteil, ein unschätzbarer Luxus in dem überfüllten Zug. Jonas Stern saß mürrisch am Fenster. Nachdem er die Tür geschlossen hatte, schüttelte Smith McConnell die Hand und sagte jovial: »Ich bin froh, daß Sie dabei sind, Doktor.«
McConnell nickte Stern zu, der bereits in dem Abteil gewartet hatte. Der junge Mann erwiderte den Gruß jedoch nicht. McConnell bemerkte sofort die verblassenden Hämatome unter der Haut. Offenbar hatte Stern seit ihrem letzten Zusammentreffen keine sonderlich friedliche Woche verbracht.
»Was soll dieser ganze Mist?« fragte General Smith und deutete auf McConnells Koffer. »Sie fahren nicht einen Monat lang nach Brighton. Das ist Ihnen doch klar, oder?«
»Ich weiß. Das ist meine Ausrüstung, sie ist notwendig.«
»Wir werden Sie für diesen Ausflug ausrüsten, Doktor. Das müssen Sie hierlassen.«
»Mit dieser Ausrüstung können Sie mir wohl kaum dienen, General.«
Smith wirkte neugierig. »Na, dann lassen Sie mal sehen.«
McConnell legte die schweren Koffer auf die Seite und öffnete sie. In dem einen befand sich auf den ersten Blick ein Haufen gefaltetes Gummi, auf dem zuoberst eine Art transparente Regenhaube lag. In dem anderen befanden sich zwei gelbe Zylinder, die etwa 50 Zentimeter lang waren, und gewellte Gummischläuche.
»Ist das da Deutsch auf den Flaschen?« fragte Smith.
»Ja. Das sind tragbare Sauerstoffzylinder aus einem abgestürzten deutschen Luftwaffenbomber. Ich dachte mir, daß wir deutsche Ausrüstung tragen sollten, wenn wir uns schon als Deutsche ausgeben.«
»Gute Idee, Doktor. Wirklich. Aber ich habe noch nie einen solchen Schutzanzug gesehen.«
»Es ist der neueste amerikanische luftdichte
Weitere Kostenlose Bücher