Schwarzer Tod
angesetzt. Mit etwas mehr Zeit bin ich sicher ... «
»Doktor, Sie haben genau fünf Tage, um mir ein Gas zu präsentieren, das mindestens 100 Stunden tödlich wirkt. Halten Sie mich auf dem laufenden.«
Der Chemiker zuckte unwillkürlich zusammen, als die Verbindung unvermittelt unterbrochen wurde.
»Ähem, Richards?« fragte er seinen Assistenten.
»Ja?«
»Haben wir zufällig eine Pistole hier herumliegen?« »Nicht daß ich wüßte, Doktor Lifton. Einer der Wächter draußen könnte uns eine leihen, denke ich. Warum?«
Der Chemiker starrte wütend in die Gaskammer. »Weil ich den vermaledeiten Affen gern erschießen würde!«
19
Rachels Plan, Frau Hagans Vertrauen zu gewinnen, hatte funktioniert. Sie war nicht sicher, warum. Vielleicht war es die fanatische Konzentration, mit der sie jede Nacht während des »Kreises« die Tür bewachte. Oder die genauen Antworten, die sie gab, wenn Frau Hagan sie nach den Nachrichten fragte, die sie über BBC in Amsterdam gehört hatte, bevor sie gefangengenommen worden war. Einmal hatte Rachel sogar ein schwaches sexuelles Interesse der Blocksprecherin an ihr bemerkt. Letzten Endes jedoch kümmerte es sie nicht, warum Frau Hagan sie unter ihre Fittiche genommen hatte; Hauptsache, sie hatte es getan.
In den letzten zwei Tagen hatte die große Polin Rachel eingeladen, sie auf ihre sogenannte »Morgenrunde« zu begleiten. Rachel war schrecklich nervös, weil Jan und Hannah nicht bei ihr waren, doch Frau Hagan versicherte ihr, daß ihre Kinder in Sicherheit seien. Die »Runde« war tatsächlich mehr als nur ein morgendliches Ritual. Die Blocksprecherin bemerkte viele Dinge, die Rachel entgingen. Sie sah, welche Wachposten wo standen, welche der drei SS-Ärzte unter Brandt verschlafen hatten, erkundete die Schwarzmarktlage an Kleidung und Gebrauchsgütern und auch an sexuellen Diensten, die hinter den Duschen ausgetauscht wurden, sowie noch ein Dutzend anderer Dinge.
Rachel achtete mehr auf die Gefangenen als auf die Wachen. Sie gingen in kleinen Gruppen umher, meist zusammen mit jenen, die dieselben Abzeichen trugen. Sogenannte Asoziale mit Asozialen, Politische mit Politischen, Kriminelle mit Kriminellen, Juden mit Juden. Und vor allem beobachtete sie die Kinder. Viele klammerten sich an die Kittelschöße ihrer Mütter, so wie es auch Jan und Hannah taten, wann immer es ihnen möglich war; doch andere wiederum schienen sich frei im Lager zu bewegen. Wie eine finster dreinblickende Armee von Zwergpartisanen schössen sie durch die kleinen Gassen, verkrochen sich unter den Treppen, zankten sich in den Baracken, spionierten allem und jedem hinterher und stahlen alles, was nicht niet- und nagelfest war, einschließlich Nahrung von jenen, die zu alt oder zu schwach waren, um sich zu schützen.
Rachel empfand das als befremdlich. Seit vier Jahren hatten sie gehört, daß die Lager im Osten Arbeitslager seien. Totenhausen erinnerte mehr an ein Sanatorium, nur daß die »Pfleger« mörderische Wahnsinnige und bis an die Zähne bewaffnet waren. Es gab wenig zu tun, außer sich müßig die Zeit zu vertreiben und zu hoffen, dem willkürlich zuschlagenden Tod zu entkommen - es sei denn man zählte Frau Hagan zu seinen Freunden.
An diesem Morgen hatte die Blocksprecherin Rachel befohlen, sich die genaue Lage des Lagers einzuprägen, und hatte ihr gezeigt, welche Gebäude unbedingt zu meiden waren, und welche Abschnitte von den Maschinengewehrposten auf dem Turm nicht eingesehen werden konnten. Das hatte nicht lange gedauert. Totenhausen war überraschend klein und mit der üblichen deutschen Präzision angelegt worden. In einem perfekten Quadrat umgeben von elektrischen Zäunen lagen die Insassenbaracken an der westlichen, und die der SS an der östlichen Seite. Diese verschiedenen Universen wurden durch den Appellplatz getrennt, wo zweimal am Tag ein Namensappell durchgeführt wurde, einer morgens und einer abends. Das Kommandantenhaus und die Offiziersquartiere befanden sich an der Vorderseite des Lagers nach Süden zum Fluß hin, der nur 40 Meter vor dem Lagertor vorüberfloß, und gegen die bewaldeten Hügel am nördlichen Ende des Lagers lehnte Brandts »Krankenhaus«. Der halb in der Erde begrabene E-Block kauerte im Schatten des Hospitals wie ein bösartiger Hund, der einen schlechten Traum hat. Das einzige Gebäude, das ungefähr der Größe des Krankenhauses entsprach, war eine große, hölzerne Scheune, die den gesamten nordwestlichen Teil des Lagers in Anspruch nahm.
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