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Schwarzer Valentinstag

Schwarzer Valentinstag

Titel: Schwarzer Valentinstag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günther Bentele
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schutzlos ausgeliefert. Es war ein schlankes, biegsames Mädchen mit sehr traurigem Gesicht, das sein Unglück, was es auch immer war, offenbar mit großer Anmut trug.
    Ihr war ein Tuch um die Augen gebunden, als würde sie zur Hinrichtung geführt, aber die Augäpfel zeichneten sich unter dem Tuch so natürlich ab, dass man glauben konnte, sie schaue einen an.
    Endloses gellendes Geschrei: Die Stufen der Kirche waren belagert von Bettlern. Da gab es Krüppel aller Art, ohne Arme, ohne Beine, schief gewachsene Männer oder Frauen, deren Körper grotesk verdreht waren. Ein Mann hatte einen so unförmigen Kopf, dass man immer wieder hinschauen musste. Zwei oder drei trugen die Brandmale verurteilter Verbrecher im Gesicht. Allerlei ekelhafte Geschwüre gab es, die offen zur Schau gestellt wurden. Christoph begriff, dass diese Missbildungen die einzige Möglichkeit für diese Menschen waren, zu überleben. Sein Vater hätte als Kaufmann gesagt, dass diese Scheußlichkeiten das Kapital der Menschen waren, das sie einsetzten, um Gewinn zu erzielen, nämlich Mitleid zu wecken.
    Er blickte an sich hinunter, um sein Kapital zu ermitteln. Aber da gab es wenig, das man einsetzen konnte. Er war sehr dünn und er war sehr bleich, das wusste er. Aber das waren viele hier auf der Kirchentreppe. Dass er der Einzige war, der von Mördern bedroht wurde, und dass man seinen Vater zu Tode gehetzt hatte, sah man ihm nicht an.
    Er sah einen mit einem entsetzlich krummen Bein, der nur noch ein Auge hatte. Immer wenn er einen reichen Mann oder eine reiche Frau im Blick hatte und ihnen etwas vorjammerte, liefen ihm die Tränen herab, und er erhielt sehr viel Geld in sehr kurzer Zeit.
    Das ist sein Kapital!, dachte Christoph. Der eine kann seiltanzen oder Feuer schlucken, der andere kann weinen, wann er will. Was kann ich? –
    Und wie sie schrien: einer erbärmlicher als der andere. Ein Wettkampf des Schreiens und Heulens um Mitleid und Barmherzigkeit! Er hatte einmal zugesehen, wie Vögel ihre Jungen fütterten. Das Junge, das am lautesten schrie, bekam am meisten zu fressen.
    Da war wieder dieses erstickende Gefühl der Hilflosigkeit.
    Hölzern stellte er sich hin, fremd war seine Stimme, als er die Erste anrief, die vorbeiging. Es war eine Frau mit einem kostbaren Pelz um die Schultern. Wie sie schrien um ihn herum! Wie sie die Arme reckten! Die Dame verzögerte beim Eintritt in das Münster einen winzigen Augenblick ihren Schritt, griff an ihren Gürtel, wobei sie das Gesicht verächtlich verzog – wer würde ihre Münze bekommen? –, und warf einige Münzen unter die schreienden, heulenden, mit Armen und Krücken fuchtelnden Bettler. Dann blieb sie kurz stehen und sah hochmütig zu, wie sich vier, fünf Bettler um ihre Gabe schlugen.
    Christoph machte nicht mit bei der Prügelei. Er wäre der Stärkere gewesen. Aber er konnte es nicht.
    Kaum war der Zank hässlich und grob zu Ende, da fuhren die Gesichter zu ihm herum: »Was machst du auf diesem Platz? Der gehört dem Stelzenklaus.«
    »Hau ab!«
    »An den besten Platz, als wenn es nichts ist.«
    Christoph war zu Tode erschrocken. Er hatte nicht gedacht, dass die Plätze im Besitz bestimmter Bettler waren.
    Er wusste, dass er sich jetzt hätte behaupten müssen: seine Ellbogen einsetzen! Mit roher Gewalt hätte er sich einen Platz erkämpfen können. Er wäre stärker gewesen als die meisten Krüppel hier.
    Aber er konnte es nicht. Er fühlte sich wie damals, als ihm der Henker die Hand auf die Schulter gelegt hatte.
    »Du bist fremd hier. Versuch es doch erst mal an der Schindbrücke auf der Außenseite, da lassen sie dich eher hin«, eine mitleidige Bettlerin war ihm nachgegangen, »hier benehmen sich manche wie Tiere. Und – lege dich nicht mit dem Stelzenklaus an.«
    Hinter sich hörte er bereits wieder das Jammern und Schreien um den nächsten Reichen, der in die Kirche ging.
     
     
    »Was jetzt?«, sagte hinter ihm eine unangenehme Stimme und er fühlte eine Hand auf seiner Schulter.
    Christoph fuhr herum.
    »Na, na, wer wird denn gleich so erschrecken. Was haben wir denn ausgefressen?«
    »Nichts«, stotterte Christoph, »was willst du?«
    Es war der einäugige Bettler mit dem krummen Bein. Eine üble Kappe hatte er auf und vor das böse Auge gezogen.
    Sie blieben stehen.
    »Du interessierst mich.«
    »Weshalb?«
    »Du bist ein komischer Vogel. Du hast noch nie gebettelt.«
    »Woher willst du denn das wissen?«
    »Man muss dich nur anschauen: Du stellst dich an den besten

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