Schwarzes Blut: Thriller (German Edition)
Friedhof vorbei, auf dem seine Frau und sein Kind lagen. Das Rauschen des Funkgeräts durchbrach die nachmittägliche Stille. Zum zehnten Mal an diesem Tag fuhr er im Schritttempo am Schulgebäude vorüber. Wie bei den neun Malen zuvor winkte ihm Dolly Marples, Timmys Lehrerin, durchs Klassenzimmerfenster zu und signalisierte ihm dadurch, dass sein Sohn in Sicherheit war.
Gene trat wieder aufs Gas. Sollte er Timmy ins Sheriffbüro bringen und mit geladener Schrotflinte vor der Tür Wache halten? Nein, der Junge hatte in den letzten Tagen schon genug durchgemacht. Wahrscheinlich war er bei seinen Freunden in der Schule besser aufgehoben. Gene hatte die Lehrer vor Junior Cotton gewarnt und ihnen ein Foto von ihm gezeigt. Sie würden ihn anrufen, wenn irgendetwas oder irgendjemand Verdacht erregte.
In der Nähe der Interstate klingelte sein Handy.
»Martindale.«
»Chief Deputy, hier spricht Detective Winslow von der State Police.«
»Ja?«
»Das Auto der Krankenschwester und die Leiche eines nicht identifizierten älteren Mannes wurden fünfzig Meilen nördlich der Stadt auf der alten 103 gefunden. Wahrscheinlich hat Cotton den Mann getötet, sein Auto an sich genommen und inzwischen die Bundesgrenze überquert. Wie es aussieht, bleiben sie diesmal von Junior verschont.«
»Vielen Dank. Wenn Sie etwas Neues erfahren …«
»Ich halte Sie auf dem Laufenden.«
Gene warf das Handy auf den Beifahrersitz. Mit einem Mal war er sehr müde. Skye war verschwunden. Junior Cotton trieb sein Unwesen in einem anderen Teil des Landes. Vielleicht war das Blutvergießen nun tatsächlich beendet, und er konnte seine Rachegedanken für später aufsparen, wenn er Blumen auf jene staubigen Gräber legte.
Jetzt brauchte er eine Tasse Kaffee. Er hielt vor Earl’s an. Bis auf Minty, die in einer Nische ihre Nägel feilte, war das Diner verlassen. Gene hatte wenig Lust, sich ausgerechnet jetzt von ihr ins Kreuzverhör nehmen zu lassen. Er fuhr in den Schatten, schloss einen Moment lang die Augen und wurde von einer Hand geweckt, die ihm auf die Schulter tippte. Er sah auf. Minty hielt ihm einen Styroporbecher hin.
»Schwarz, zwei Stück Zucker. Um Himmels willen, Gene«, sagte sie, als er zögerte. »Nimm. Da ist schon kein Gift drin.«
Er nahm den Becher und trank. Minty beugte sich vor. Ihr Parfüm vermischte sich mit dem Kaffeearoma.
»Was zum Teufel ist zwischen dir und Skye vorgefallen?«
»Das ist eine Familienangelegenheit.«
»Du hast dem armen Ding das Herz gebrochen. Sie einfach so rauszuschmeißen. Du weißt doch, wie sehr sie dich und Timmy liebt.«
»Sie hat sich verändert, Minty. Lass es gut sein, ja?«
»Klar hat sie sich verändert. Sie ist jetzt eine Frau. Weißt du noch, was das ist?«
Zur Verdeutlichung richtete sie sich auf und hielt ihre Brüste und Hüften ins Fenster. Einen kurzen Augenblick überkam Gene eine Begierde, die Sehnsucht, sich in ihrem duftenden Fleisch zu verlieren.
Gene drückte ihr den Becher in die Hand. »Ich muss los.«
»Du bist ein Feigling, Gene Martindale«, rief sie ihm hinterher, als er zu den bröckelnden Gewissheiten der sterbenden Stadt zurückfuhr.
Dem konnte er nicht widersprechen.
44
Es war eine unglaubliche Verwandlung. Der abgerissene Gruftie – verfilzte rabenschwarze Locken, ein leichenblasses, mit Ringen, Nieten und Steckern übersätes Gesicht, ein schwarzes Taftkleid über Strumpfhosen und Dr.-Martens-Stiefel –, der in die Toilette der Tankstelle geschlurft war, tauchte zehn Minuten später als Kleinstadtschulmädchen wieder auf: Blonde Locken umrahmten ein fast hübsches Gesicht, blaue Augen blitzten hinter einer Hornbrille hervor, die Haut leuchtete sauber und frisch, ein winziger Hauch von pfirsichfarbenem Lippenstift umspielte die Lippen. Sie trug Turnschuhe, blaue, neutral geschnittene Jeans und eine weiße Bluse, die ihre Brüste verbarg.
Das Mädchen warf ihren Rucksack in den Kofferraum und setzte sich hinter das Steuer des Chevrolets.
»Bist du blond oder brünett?«, fragte Junior.
»Nix davon. Sind alles Perücken.« Sie packte Juniors Kopf und drehte ihn herum. »Jetzt du«, sagte sie. Er hörte das Gummiband schnalzen, mit dem sie sein Haar zu einem Pferdeschwanz zusammenband.
Dann drückte sie ihm ein Käppi mit CATERPILLAR -Logo auf den Kopf, sodass sein Haarschopf nicht mehr zu sehen war, und hielt ihm eine große Pilotensonnenbrille hin. »Aufsetzen.«
Junior gehorchte. Sie klappte die Sonnenblende herunter, und aus dem kleinen
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