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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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Vaters. Jetzt wurde mir klar, warum die Stimmung am Morgen so gereizt war. Der Vater wollte die Frauen miteinander bekannt machen, doch das wollte die Mutter auf keinen Fall. Da sich sein Besuch aber nicht mehr abwenden ließ, schickte sie Pascha und mich mit. Zum Aufpassen.
    Hinter der Frau tauchte ein Junge auf. Ihr Sohn. Er musste ungefähr so alt wie mein Bruder sein. In seinem früheren Leben, in der Steppe von Karaganda, hieß er Kolja. Jetzt, in Deutschland, Konrad oder einfach Konni. Er bekam den Auftrag, sich um uns zu kümmern, was er ohne Widerspruch, aber auch ohne Begeisterung tat. Konni kannte uns nicht, wusste nur, dass wir kein Deutsch sprachen. An sich kein Hindernis, um etwas gemeinsam zu unternehmen, aber jedweder Erinnerung an die Zeit in der Steppe begegnete er mit Argwohn. Zwei Jungs von dort waren zwei zu viel.
    Der Vater ging mit Lotte ins Haus. Wir blieben draußen. Eine oder zwei Stunden. Konni hielt uns vom Haus fern, wir durften nicht stören. Was drinnen vor sich ging, worüber geredet wurde, wir konnten es weder sehen noch hören. Ohnehin hätte ich es nicht verstanden, sie sprachen ja Deutsch. Als Vater und Lotte rauskamen, schien es mir, als hätte sie geweint. Das drückte zusätzlich die Stimmung. Um nicht einfach nur herumzustehen, gingen wir zum Müggelsee. Die Kinder vornweg, mit einem gewissen Abstand die Erwachsenen. Es war einer der beiden Tage nach unserer Ankunft, an denen es nicht regnete. Am See warfen wir flache Steine über das Wasser, so wie wir es oft am Ufer der Workuta getan hatten. Wer es schaffte, den Stein vier- oder fünfmal auf der glatten Oberfläche tanzen zu lassen, wurde mit anerkennendem Brummen bedacht. Irgendwann ging es den sandigen Weg zurück, wir verabschiedeten uns, der Vater eher gerührt, auch wenn er auf eine Umarmung verzichtete, wir steif. Ein seltsamer Tag.

VII
    Lena wusste es nicht. Die Kinder auch nicht. Wie hätte er es ihnen auch erklären können? Als Lorenz an diesem schönen, von goldenem Herbstlicht durchströmten Tag mit den Kindern endlich aufbrach, würde es nicht sein erstes Wiedersehen mit Lotte sein. Er hatte sie schon einmal besucht und blieb bis in den Abend bei ihr. Es war der zweite Tag der Rückkehr nach Deutschland. Schneller ging es nicht, auch wenn sie die Verzögerung, selbst um einige wenige Stunden, nicht verstehen konnte. Erst musste er die Dinge im Zentralkomitee auf den Weg bringen, dann dieser Auftrag mit dem Paket. Da war der Tag schon zu Ende. Deshalb konnte er auch Lenas Wunsch, mit den Kindern die Stadt anzuschauen, vorerst nicht erfüllen.
    Er musste Lotte sehen.
    Er wollte von ihr wissen, wie Larissa starb und wie es ihr all die Jahre im Lager ergangen war. In einem Brief konnte man nichts davon schreiben. Noch in Workuta hatte Lorenz von seiner Mutter die Nachricht erhalten, dass Lotte lebte und in Ostberlin auf ihn wartete. Dann kam ihr erster Brief. Voller Hoffnung, voller Zukunftspläne, voller Zärtlichkeit. Sie schrieb, dass er bestimmt auch bald frei sein werde, dass er zurück nach Deutschland komme und sie gemeinsam all das Schreckliche hinter sich lassen würden. Sie schrieb, wie sehr sie ihn liebte. Gemeinsam würden sie es schaffen. Gemeinsam würden sie leben. Lange zögerte er die Antwort hinaus. Aus ihren Zeilen sprach so viel Freude und Zuversicht, dass er es nicht über sich brachte, sie zu enttäuschen. Wochen trug er den Brief mit sich herum und konnte sich nicht entschließen, ihr zu sagen, dass es eine gemeinsame Zukunft nicht geben würde.
    Jahre zuvor hatte man ihn aus der Baracke gerufen. Er erhielt ein amtliches Schreiben: Seine Frau sei tot. Gestorben in Nischni Tagil im Ural. Todesursache Typhus. Am Fußende des Blatts prangte ein violetter Stempel mit den Insignien des Sowjetstaates. Es konnte keinen Zweifel geben. Lotte lebte nicht mehr. Erst das Kind, dann die Frau. Lorenz sprach tagelang kein Wort. Alles sinnlos. Warum sollte er sich weiter quälen? Eines Tages wäre sowieso alles zu Ende …
    Als Jahre später ihr Brief kam, wusste er, es war eine Lüge. Eine amtliche Lüge. Warum ihm die «Organe» die Schreckensnachricht schickten, er konnte es nicht begreifen. Wollten sie ihn damit endgültig brechen? Hatten sie keinen Überblick mehr über die Gefangenen in den Lagern? Denn ob ein Mensch lebte oder schon tot war, was spielte das für den Gulag-Apparat angesichts der Millionen für eine Rolle? Wer noch nicht tot war, konnte es bald sein. Und hatte ein «Feind des Volkes»

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