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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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überhaut Anspruch auf eine korrekte Auskunft? Nach der inneren Logik des Geheimdienstes nicht.
    Lotte lebte. Sie lebte hier, in dieser Stadt. War er in der S-Bahn noch ruhig, so spürte er auf dem Weg zu ihrem Haus, wie nahe ihm das Wiedersehen ging. Er blieb stehen, um seine Aufgeregtheit zu unterdrücken. Hatte er sich nicht immer wieder gesagt, dass zwischen ihnen alles aus war und vorbei, dass nichts mehr so sein konnte, wie es war? Dass es bei dieser Begegnung lediglich darum gehen konnte, sich Gewissheit über die eigene Geschichte zu verschaffen? Ein Zurück, zurück in die Zeit vor jenem Oktober 1937, gab es nicht. Schon wegen der beiden Jungen nicht. Aber die Gefühle widersetzten sich der Vernunft.
    Als die Tür aufging, war alles, was Lorenz sich auf dem Weg im Kopf zurechtgelegt hatte, wie ausradiert. Er stand da, und noch bevor sie beide etwas sagen konnten, wusste er, dass seine Entscheidung richtig war. Eine Rückkehr gab es nicht. Es war nicht mehr die Lotte, die er kannte: jung, lebenslustig, voller Übermut. Vor ihm stand eine seltsam vertraute, aber zugleich unbekannte Frau. Vor allem ihre graugrünen Augen, die ihn einst mit ihrem Strahlen und Spott so verzaubert hatten, waren matt und müde.
    Diese Augen lachten nicht mehr.
    Der Tod von Larissa, die schrecklichen Jahre der Haft, das Elend der Verbannung, all das hatte tiefe Spuren in ihr Gesicht geschnitten. Um diesen Leidensweg zu überstehen, brauchte ein Mann schon sehr viel Glück, für Frauen war es fast unmöglich. Lorenz wusste das nur zu gut. Er kannte ihre von dem endlosen Marsch in den arktischen Norden ausgezehrten Gestalten, er kannte die Brutalität der Wachen, ihren hechelnden Geifer, wenn neue Gefangene im Lager eintrafen. Sie hatten beide überlebt, dafür war er dankbar. Dankbar, sie wiederzusehen, ihr Gesicht zu streicheln. Doch er war nicht mehr der Lorenz, den sie kannte, und sie nicht die Lotte, an die er nachts auf seiner Lagerpritsche dachte. Die Jahre im Lager waren über ihre Liebe hinweggegangen. Sein Herz war erfroren.
    Sie sah ihm aufmerksam, fast beschwörend in die Augen und konnte doch das, was sie erhoffte, nicht entdecken. Er war froh, sie endlich umarmen zu können, doch auch das gelang nur linkisch. Er blickte über ihre Schulter in den Flur – keiner da. Ihr Sohn war in der Schule. Sie waren ungestört.
    «Es ist schön, dass du endlich hier bist.»
    «Früher ging es wirklich nicht.»
    Lotte führte ihn in die Küche. Sie setzten sich an die Ecke des Tischs, rückten die Stühle zusammen, sie legte ihr Gesicht in seine Hand. Sie weinte. Lorenz schnürte es die Kehle zu. Schweigend saß er vor ihr und wusste, dass jedes Wort zu viel war.
    Plötzlich stand sie auf, ging ins Nebenzimmer und kam mit einer Plastik zurück. Eine Pieta. Sie hatte sie im Lager heimlich, in der Nacht, modelliert, wenn die anderen Frauen in der Baracke erschöpft von dem Vierzehn-Stunden-Arbeitstag auf ihren Holzpritschen dahindämmerten. Wie ein Wunder hatte das zerbrechliche Kunstwerk den langen Weg von Karaganda nach Berlin unbeschadet überstanden. Es waren drei kleine Figuren, die in einem Moment der Ruhe und Einkehr verharrten. In der Mitte saß eine Frau, an sie schmiegte sich stehend ein Mädchen; ein zweites, klein und zerbrechlich, schlief auf ihrem Schoß. Er wusste, Larissa schläft nicht.

VIII
    Auf keinen Fall wollte er länger warten. Sicher war es ein denkbar ungünstiger Tag, um etwas Neues zu beginnen. Ein Freitag. Die Woche ging zu Ende, die Menschen hatten bereits anderes als Arbeit im Kopf. Aber sie waren erst am Donnerstag in Gotha angekommen. Nun klopfte Lorenz in der Kaderabteilung genau jenes Betriebs an, der ihn vor dreißig Jahren nicht haben wollte. Obwohl die Flugzeuge aus Gotha guten Absatz fanden, gab es damals auch hier keine Arbeit. Den Autobau in Eisenach musste das Unternehmen sogar abstoßen. Die Konkurrenz aus Bayern griff zu: Der erste BMW war kein Bayer, sondern ein Thüringer.
    Nach dem Krieg hatte sich in Gotha vieles verändert. Über die verkohlten Trümmer der Produktionshallen, in denen die Bomber gebaut wurden, wucherte Unkraut. Statt mehrerer tausend zählte das Werk nur wenige hundert Mitarbeiter, statt Flugzeugen baute man Waggons und Straßenbahnen, statt Kunden in aller Welt belieferte man vor allem die sozialistischen Brüder.
    Lorenz musste einige Zeit auf den Kaderleiter warten, aber dann ging es schnell. Am Montag sollte er im Waggonbau als Schlosser zur Frühschicht antreten. Das

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