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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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roch nach schwerer körperlicher Arbeit. Davor fürchtete er sich nicht, doch das Herz beunruhigte ihn, die Schmerzen, der Druck auf der Brust, das machte ihm Sorgen. Er wirkte deutlich jünger als fünfzig. Kaum eine Falte im Gesicht, scherzte er, dass ihn die Kälte der Arktis wie einen Mammut im Dauerfrostboden konserviert hätte. Aber in den Augen sah man die Wahrheit. Die Toten, die Gequälten, die Entmutigten: Diese Augen hatten viel Schreckliches gesehen und konnten es nicht vergessen. Auch wenn er es immer glaubte, er war nicht unverwundbar. In diesem nasskalten Deutschland wusste er das mit einem Mal.
    Nie hätte er jemandem von seiner Bedrängnis erzählt. Auch Lena nicht. Sie war zwanzig Jahre jünger und würde die Schwäche kaum verstehen, im Gegenteil. Er konnte gern darauf verzichten, erneut darüber zu streiten, ob die Krim nicht der bessere Ort wäre, um sich niederzulassen. Natürlich wusste er, dass der Rest der Familie den Wechsel nach Deutschland ablehnte. Die unfaire Rechnung lautete, einer gegen drei. Die Gewissheit des einen war die Ungewissheit der anderen. Aber die Kinder würden sich mit Sicherheit schnell an die neue Heimat gewöhnen. Sie spielten ihre wilden Spiele am Rande des Lagerzauns, sie würden sich auch hier zurechtfinden. Und Lena? Lena würde sich fügen. Das Leben in Deutschland war leichter und angenehmer. Das würde sie überzeugen. Ohnehin, die Entscheidung war gefallen. Er hatte gewonnen, so schnell sollte es eine Revanche nicht geben. Da wollte er lieber die schweren Gussteile in der Waggonhalle allein hin und her schleppen.
    So stieg Lorenz an einem grauen Montagmorgen in die Straßenbahn, die sich quietschend hinter dem Hotel einen ungewöhnlich steilen Berg hinaufquälte. Das Hotel «Zum Mohren», in dem sie in Gotha vorübergehend unterkamen, galt als erstes Haus am Platze, man war stolz darauf, den Gästen in Zeiten von Buttermarken überhaupt eine Speisekarte bieten zu können. Wie lange sie dort bleiben würden, war ungewiss. Die Anweisung aus Berlin an die «örtlichen Genossen» klang eindeutig: so lange, bis der Genosse aus der Sowjetunion eine annehmbare Wohnung gefunden hatte. Das konnte bei der Wohnungsknappheit Monate dauern.
    Die Bahn ratterte Richtung Ostbahnhof, dorthin, wo das Werk und seine Arbeit warteten. Lorenz hatte sich eine neue Schlosserjacke zugelegt. Blau, mit mehreren Taschen, in denen man Papiere und Taschenmesser verstauen konnte. An Schnitt und Stoff hatte sich in den letzten dreißig Jahren nichts geändert. Damit die Jacke nicht ganz so neu aussah, bat er Lena, sie zu waschen. Sie tat es, sogar zweimal, obwohl ihr seine Marotte reichlich albern vorkam. Er dachte an den entscheidenden ersten Eindruck. Und bei einem, der aus Russland kam, war der besonders wichtig. Vom ersten Tag an wollte Lorenz keinen Zweifel zulassen, dass er zu denen da unten und nicht zu denen dort oben gehörte.
    Ein Arbeiterstaat. Der Gedanke gefiel ihm, auch wenn er bereits ahnte, dass sein verklärter Blick mit der Wirklichkeit wenig zu tun hatte. Die kurze Zeit in Berlin hatte einen schalen Nachgeschmack hinterlassen. Noch hatte er Hoffnung, dass draußen im Land, weit genug weg von der Zentrale und den «Apparatschiki», der andere, der bessere Entwurf lebte. Er wollte es einfach nicht glauben, dass das stalinistische Geschwür bereits in so kurzer Zeit den ganzen Körper befallen hatte.
    Zum wiederholten Mal sagte sein Verstand: Es ist so.
    Zum wiederholten Mal erwiderte sein Herz: Halt die Klappe.
    Einzugestehen, dass er auf einem Irrweg marschierte, hätte geheißen, für immer heimatlos zu bleiben. Und das wollte er nicht.
    Beim Verlassen des Hotelzimmers hatte er flüchtig in den Spiegel gesehen. War er wirklich einer von ihnen? Gewiss, einige seiner neuen Kollegen hatten wie er vor dem Krieg ausgelernt, lagen dann in einem Schützengraben, hatten überlebt und sich nach dem Krieg in die neuen Verhältnisse eingepasst. Doch Emigration, Universität und Lager waren etwas ganz anderes. Eine Erfahrung, die sie nicht teilten. Mehr noch: Es war eine Erfahrung, die sie trennte. Er hatte nicht mitgemacht. Weder hier noch dort. Und er wusste: Die Gemeinschaft der «Mitmacher» mochte keine Verweigerer. Das war schon früher so, das war jetzt nicht anders. Er roch einfach fremd. Und das lag nicht an seinem russischen Eau de Cologne.
    Er grinste in den Spiegel. Ein Graf Besuchow war denen in der Werkhalle völlig unbekannt. Und man konnte sicher sein, dass sie von

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