Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
einem Raskolnikow nie gehört hatten. Im Grunde ging sie weder Tolstoi noch Dostojewski etwas an. Hatte für ihr Leben nicht die geringste Bedeutung. Er war schon auf dem Flur, da drehte er sich noch einmal um, ging zurück und zog eine Krawatte aus dem Schrank. Dunkelrot mit leichten Streifen, fiel sie auf dem tiefblauen Hemd fast nicht auf. Und doch wusste er, ein einfacher Arbeiter, der täglich mit Schlips zur Arbeit kam, einer Arbeit, wo Funken flogen, wo geschwitzt und geflucht wurde, der war nicht zu übersehen.
Der Empfang fiel genau so aus, wie es Lorenz erwartet hatte. Dass ein «Russe» in die Brigade kam, hatte sich herumgesprochen. Wer da geschwatzt hatte, blieb unklar. Jedenfalls versuchte der Brigadier alles, die Sache noch umzubiegen. An einen Zufall wollte er nicht glauben. Das konnte nur ein Aufpasser sein, den ihnen die Partei in den Pelz setzen wollte.
Doch es blieb dabei. Dann standen sie sich gegenüber, der eine groß und kräftig, mit schwarzem, abgewetztem Einteiler, der unten an den Beinen etwas zu kurz geraten war, so dass die schlabberigen Socken hervorschauten, und der Neue, nicht groß, mit akkurat geschnittenem Haar und Brille. Hinter dem Brigadier hatten sich seine Männer aufgebaut und warteten. Lorenz lächelte tapfer, reichte jedem die Hand.
«Das Schlipsel!», rief einer.
Die anderen lachten.
«Ach, daran musst du dich nicht stören», antwortete Lorenz, als hätte er den feindseligen Ton überhört. «Entscheidend ist nicht, wie einer aussieht, sondern was er kann. Stimmt’s?»
Nun, der Brigadier war genauso, wie er aussah. Ein «Zwölfender». Einer, der sich freiwillig zur Wehrmacht gemeldet hatte und schon beim Einmarsch in Polen dabei war. Nichts, was im Werk vor sich ging, schmeckte ihm. Längst wäre er fort gewesen, aber er hatte auf dem Dorf einen kleinen Hof. Der Vater lebte noch, alles aufzugeben kam für ihn deshalb nicht in Frage. Außerdem, es hätte ihn arg gegrämt, wenn einer der Roten in seine Stube eingezogen wäre. So lebte er von der Hoffnung, dass der Sozialismus bald die Grätsche machte und im Werk wieder klare Verhältnisse herrschten.
Als die Arbeit verteilt war, hatte Lorenz die dreckigste und gefährlichste abbekommen, bei der man außerdem so gut wie nichts verdienen konnte: Er sollte die Eisenpuffer an die Waggons schweißen. Das kam ihm bekannt vor.
«Eine feine Arbeit habt ihr da für mich aufgetan!» Lorenz ließ die diplomatische Zurückhaltung fallen. «Gut, ich mache die Sache. Aber die Puffer sind schwer; damit sich keiner den Bruch hebt, brauch ich zwei Leute, die halten. Das Schweißen erledige ich.»
«Nur einen! Zwei gibt es vielleicht in Russland! Hier, Karlchen, der dürfte zu dir passen.»
Der Brigadier griff aus der Reihe der Rumstehenden ein mickriges Kerlchen heraus und schob den Mann Richtung Lorenz.
«Ansonsten, wenn dir das nicht passt, such dir eine andere Arbeit. Das Werkzeug liegt da drüben in der Kiste. Fangt an. Wir haben schon genug Zeit vertrödelt.»
Lorenz sagte nichts. Er begann, im Werkzeugkasten zu kramen und fluchte. Russisch. Das verschaffte etwas Luft. Mit den rostigen Krücken konnte man nichts anfangen. So ging ein halber Tag dafür drauf, brauchbares Werkzeug herzurichten. Anfänglich schien Karlchen nicht sehr gesprächig – alle hatten zur Vorsicht mit dem «Russen» gemahnt –, dann sprudelte es aus ihm heraus:
«Mensch, du kannst ja sogar Deutsch!?»
«Was soll das denn?» Lorenz wusste nicht, ob er sich über die dumme Frage empören sollte oder ob es unter seiner Würde sei, überhaupt zu reagieren.
«Na, du kommst doch aus Russland! Oder nicht?»
«Ja. Aber ich bin Deutscher wie du. Geboren in Dortmund.»
«Wie? Im Westen?! Und was machst du dann hier?»
«Euch helfen, den Plan zu erfüllen.»
«Wenn ich aus dem Westen käm, da wüsste ich, wo ich jetzt wäre!»
«Siehst du, das unterscheidet uns.»
Als sie endlich den ersten Puffer in Position gebracht hatten und Lorenz gerade ansetzte, die Schweißnaht zu ziehen, sah er das lauernde Gesicht des Brigadiers. Lorenz hieß Karlchen den Puffer absetzen und ging mit dem Schweißbrenner in der Hand auf den Mann zu. Sofort ließ der Rest der Brigade die Arbeit fallen. Das versprach eine gute Unterhaltung zu werden.
«Was grinst du? Hast du Angst, dass du für mich mitarbeiten musst?» Er machte eine Pause. «Weil du meinst, du kannst es besser? Wenn du dich da nicht täuschst.»
Lorenz bebte vor Empörung. Doch seine Aussprache blieb
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