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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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überzeugt, sehen wir in einer Woche schon klarer. Übrigens, den Mann fragst du, wo es zum Ku’damm geht. Er wird antworten, dass du zu früh aus der S-Bahn gestiegen bist.»
    Er hatte sich schon umgewandt, um endgültig den Raum zu verlassen, doch dann hielt Lorenz einen Moment inne und griff mit einer schnellen Bewegung das Heftchen mit dem Bericht über die russischen Lager vom Tisch:
    «Den Kajetan, den borge ich mir mal aus. Geht das klar?»
    Der ZK-Mann schaute ihn nur perplex an.
    «Es ist das einzige Exemplar, das wir im Haus haben. Eigentlich geht das nicht. Da stehen ja auch noch andere Namen drin, also, gerne gebe ich es nicht raus …»
    Lorenz ließ sich von dem Gestottere nicht beirren.
    «Keine Sorge, du kriegst es noch diese Woche zurück. Aber ich muss das lesen. Es geht mich ja auch direkt an.»
    Endlich schloss er die Tür hinter sich und eilte schnurstracks am Paternoster vorbei zur Treppe. Er war froh, dem unangenehmen Gespräch entronnen zu sein.
     
    Irgendwo in einer Querstraße nahe beim Brandenburger Tor verlangsamte er an einem Imbiss den Schritt, kramte aus der Hosentasche fünf Mark hervor und ließ sich eine Bockwurst und ein Bier geben. Die Normalität des Vorgangs rührte ihn fast zu Tränen. Wie lange hatte er darauf gewartet, so ganz einfach, weil ihm danach war, an einem Kiosk ein Bier zu trinken, in deutscher Sprache zu bestellen, und als Antwort ein «Bitteschön» zu hören. Er schaute die Gruppe Bauarbeiter an, die eher lustlos ihre mitgebrachten Stullen kauten. Selbst wenn er es ihnen erklärt hätte, sie würden es nicht verstehen, warum er beim Anblick einer Bockwurst selig in sich hineinlächelte.
    Er schlug das mitgebrachte Heft auf und vertiefte sich in die Schilderungen seines Lagerfreunds. Kajetan hatte es wirklich geschafft. Statt sich wie vom NKWD befohlen an den Ort seiner Verbannung in die Ukraine zu begeben, schlug er sich nach Moskau durch. Das war gefährlich, sogar lebensgefährlich. Wenn sie ihn geschnappt hätten, wäre ihm das Erschießungskommando sicher gewesen. Aber so schaffte er es nicht nur in die Hauptstadt, sondern wie durch ein Wunder an allen Wachen vorbei bis in die deutsche Botschaft, die nach dem «Anschluss ans Reich» auch für einen Österreicher zuständig war. Tage später durfte er gemeinsam mit dem Botschaftspersonal im Austausch gegen sowjetische Diplomaten der Berliner Mission das Land verlassen. Der Krieg hatte begonnen. Auf der langen Zugfahrt nach Deutschland geriet Kajetan in die Fänge des Moskauer Korrespondenten des «Völkischen Beobachters», der die Propagandaschrift abfasste und, wo es nur ging, gegen Juden und Bolschewiki hetzte. Als ob das, was Kajetan aus Workuta berichtete, nicht schlimm genug gewesen wäre. Hier offenbarte sich das unauflösliche Dilemma jeglicher Propaganda, die immer viel zu dick, viel zu überzogen aufträgt, um glaubwürdig zu sein.
    Trotzdem las Lorenz jede Seite, jede Zeile, begierig zu erfahren, ob Kajetan vielleicht an einer weiteren Stelle von ihm berichtete. Das war nicht der Fall. Lorenz schaute auf die Uhr. Es war Zeit. Eine Viertelstunde später ratterte er aus dem schmutzigen Fenster blickend vom Bahnhof Friedrichstraße Richtung Bahnhof Zoo. Erst wollte er es sich selbst nicht eingestehen, aber wo der Osten endete und der Westen anfing, erkannte man nicht nur an den Wachposten. Auch im anderen Teil der Stadt sah man noch die Spuren des Krieges. Zerstörte Häuser und Einschüsse in den Wänden. Aber deutlich weniger. Die Straßen wirkten aufgeräumter, es fuhren mehr Autos auf den Straßen, und die waren nicht nur grau oder schwarz. Trotz der Düsternis des Novembers gab es mehr Farbe und Licht. Alles schien freundlicher. Die grelle Reklame ließ Lorenz kalt, aber dass überall gebaut wurde, die Bombenlücken mehr und mehr verschwanden, sprach von der Vitalität einer Stadt, die nach den geltenden ideologischen Leitsätzen eigentlich absterben musste. Das Leben richtete sich offensichtlich nicht nach Parteibeschlüssen.
    Der Bahnhof Zoo machte allerdings keinen sonderlichen Eindruck. Niedrige Gänge und Hallen, im Vergleich zum Prunk der Moskauer Metro fast armselig, abgenutzt und grau. Überall hasteten Menschen, die ihn nichts angingen und die auch er nichts anging. Das war ganz gut so. Zur Sicherheit schlug er mehrere Haken, immer darauf achtend, ob ihm nicht doch jemand folgte. Er hatte den Karton unter den rechten Arm geklemmt, doch dort schien er mit jedem Schritt zu wachsen.

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