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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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Eigentlich musste das auffallen.
    Schließlich ging er durch einen Nebenausgang hinaus auf die Jebenstraße, bog um das Gebäude, um dann entschlossen von der Seite des Hardenbergplatzes wieder im Menschengewühl des Bahnhofs zu verschwinden. Doch genau in jenem Moment, in dem er sich zur Sicherheit nochmals umdrehte, stieß er frontal mit zwei Polizisten zusammen. Das Paket flog ihm aus der Hand und landete direkt vor ihren Füßen. Sein Herz blieb stehen.
    Das war’s.
    Weder war er in der Lage, nach dem Paket zu greifen, noch, etwas zu sagen. Mehrfach setzte er an, eine Entschuldigung zu stammeln. Doch es kam nichts über seine Lippen. Eine Ewigkeit verging. Dann sah Lorenz, wie sich einer der Polizisten bückte, das Paket aufhob, einen Moment in der Hand wog und es freundlich lächelnd zurückgab.
    «Sie haben etwas verloren. Ich hoffe, da war kein Glas drin?»
    «Kein Glas?», fragte Lorenz automatisch zurück, um dann eiligst zu antworten: «Nein, nein, da ist kein Glas.»
    «Na, dann ist’s ja gut.»
    Die beiden Beamten verabschiedeten sich und gingen ihres Weges. Lorenz atmete tief durch. Er hatte sich innerlich schon darauf vorbereitet, eine lange Geschichte zu erzählen, warum er unbedingt heute hier sein musste. Doch das interessierte niemand. Die Polizisten verschwanden hinter der nächsten Ecke, sie drehten sich nicht einmal um. Lorenz war verwirrt: All seine Erfahrung sagte ihm, Männer in Uniform bedeuten Gefahr. Wenn nichts geschah, dann konnte es nur eine Falle sein, und schon hinter der nächsten Ecke würde sie zuschnappen.
    Da sah er das Toilettenschild am Ende des Gangs. Die Rettung. Im Vorraum wartete er einen Moment, als wollte er zum Pinkeln alles nötige herauskramen, um dann schnell in einer gerade leer gewordene Kabine zu verschwinden. Der Geruch des Vorgängers schlug ihm in die Nase, aber das war nicht der Moment, wählerisch zu sein. Er schob den Riegel vor.
    Geschafft.
    Doch im gleichen Augenblick schoss es ihm durch den Kopf: Die Kabine war eine perfekte Falle. Hinter dem Spülkasten nur die Wand. Sie konnte ihn hier abpflücken wie einen Apfel. Hatten sie ihm an der Universität nicht beigebracht, dass man bei einem Versteck immer auf einen zweiten Ausgang achten müsse?
    Es dauerte, bis sich Lorenz wieder unter Kontrolle hatte. Er setzte sich erschöpft, suchte in seinen Taschen nach etwas zu rauchen und tat einen tiefen Zug. Das beruhigte. Noch einen Zug, und noch einen.
    «Pfui Deibel!», schrie es aus der Kabine nebenan. «Da raucht doch so’n Mistkerl Russenkraut! Das rieche ich selbst auf dem Scheißhaus. Fünf Jahr in Sibirien gab’s nur dieses Zeug. Pfui Deibel, und einer raucht das freiwillig!»
    Tatsächlich. Lorenz hatte beim Griff in die Tasche statt der «Jubilar», der billigen Arbeiterzigarette im Osten, eine «Belomor»-Papirossa erwischt. Im Nu hatte er das verräterische Indiz runtergespült, dann wartete er, bis nebenan mehrfach die Tür auf und zu ging. Vorsichtig lugte er durch einen Spalt und hastete die Stufen zum ersten erreichbaren Bahnsteig hinauf. Er studierte den Aushang mit den Abfahrzeiten, zwischendurch sah er sich verstohlen um. Es schien, als sei ihm keiner gefolgt. Noch hatte er zehn Minuten bis zum Treffen. Als er die Zugverbindungen fast auswendig wusste, machte er sich auf den Weg zum vereinbarten Treffpunkt. Auf halber Strecke stockte sein Herz. Stufe für Stufe kamen ihm wieder die beiden Polizisten entgegen. Lorenz schossen die krudesten Gedanken durch den Kopf: Die sind mir doch gefolgt. Der Mann aus der Kabine nebenan hat mich gemeldet. Die holen gleich die Handschellen raus …
    Er schaute nach oben zum Bahnsteig, gerade rollte ein Zug davon. Umdrehen? Hinaufrennen? Die Türklinge erwischen? Einen Augenblick hatte er das Bedürfnis, dem inneren Impuls nachzugeben. Doch das hieß, die ganze Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Wenn er überhaupt noch eine Chance hatte, und mochte sie noch so klein sein, damit hätte er sie endgültig verspielt. Dann saß er fest. Mit seinem russischen Pass wäre alles klar: Es konnte sich bei ihm nur um einen KGB-Agenten handeln. Mit unmenschlicher Anstrengung zwang er sich, seinen Weg fortzusetzen in die Arme der Polizisten.
    Als er fast auf einer Höhe mit ihnen war, schaute ihm einer von beiden – genau jener, der das Paket vor wenigen Minuten vom Boden aufgehoben hatte – direkt in die Augen und lachte:
    «Da ist ja unser Freund mit dem Päckchen wieder!»
    Er blieb stehen. Lorenz auch. Der Polizist

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