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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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glauben, man habe sie vergessen. Und dann kamen sie doch dran.»
    Er atmete tief durch.
    «Hundesöhne ist geschmeichelt», mischte sich einer der Kartenspieler ein und spuckte angewidert auf den Boden. «Das sind Sadisten, und wenn es nach mir ginge, wäre es längst vorbei. Aber so sitzen wir und warten, und die haben ihren Spaß. Das ist wie bei einer Katze, die eine Maus fängt. Das kleine Ding einfach runterzuschlucken wäre viel zu einfach. Sie lässt die Maus noch eine Weile zappeln, bis es dann langweilig wird. So ist es auch mit uns.»
    Lorenz sprang auf.
    «Das kann doch alles nicht wahr sein!»
    Mit einem Satz war er an der Tür und trommelte mit den Fäusten gegen das Blech. Der Donner verbreitete sich über die Korridore.
    «Junge, lass das sein», machte sich der Tatare wieder bemerkbar. «Die mögen den Krach nicht und stecken dich noch in den Karzer. Was hast du davon, die letzten Tage in Isolation und bei trockenem Brot zu verbringen? Oder meinst du, die Verpflegung hier ist umsonst? Du sollst stillhalten, verstehst du?»
    Lorenz hielt inne. Einfach so alles hinnehmen? Aufgeben? Sich abfinden? So, wie die hier das längst getan hatten? Das konnte es nicht sein. Dennoch hörte er auf, gegen die Tür zu schlagen.
    «Gut so», nickte der Tatare zufrieden. «Komm, setzen wir uns an den Tisch, lass uns weiterreden.»
    «Irgendwas musst du doch getan haben», mischte sich der im schwarzen Hemd wieder ein. «Ganz ohne Vorwand geht es auch bei denen nicht.»
    Er machte eine Pause, stand auf und rückte einen weiteren Hocker an den Tisch heran.
    «Ich zum Beispiel sitze hier wegen Sabotage.» Er machte eine Pause und ließ das Wort auf den Zuhörer wirken. «Die haben uns in die Kolchose einen Traktor geschickt. Selbst in der Zeitung hat es gestanden: Eine neue Ära auf dem Lande bricht an. Nie mehr schlechte Ernten. Wir haben extra einen unserer besten Brigadiere zur Weiterbildung abkommandiert. Mischa. Der konnte dann auch mit dem Ding wahre Kunststückchen vollbringen. Wie eine Ballerina vom Bolschoj. Nur die weißen Strümpfchen fehlten.»
    Lorenz kam nicht umhin zu schmunzeln. Er kannte diese tonnenschweren Ungetüme. Hin und wieder begegnete er solch einem Wunderwerk sowjetischer Ingenieurskunst auf den Feldern. Die nahe Verwandtschaft zu einem Panzer sah man ihnen schon von weitem an, in der Regel stammten sie auch aus demselben Werk. Von Grazie und Wendigkeit konnte keine Rede sein. Aber immerhin, die Riesenfelder der Kolchosen ließen sich damit deutlich schneller umbrechen als mit den mageren Pferdchen. Vorausgesetzt, der Traktor stand nicht monatelang herum, weil Ersatzteile fehlten.
    «Eines Tages», fuhr der Mann fort, «haben wir im Dorfsowjet mächtig gefeiert. Hol’s der Teufel, ich glaub, jemand war Vater geworden. Und ihr wisst schon, in so einem Dorf wird ständig einer Vater. Manchmal kam ich als Kolchosvorsitzender die ganze Woche nicht zum Arbeiten. Hochzeit hier, Namenstag dort, und dann sterben ja auch immer welche. Da kann man nicht einfach sagen: Das war’s. Das muss schon würdig begangen werden. Die alte Anjuta hatte einen herrlichen ‹Samogon› auf Vorrat, im Selbstbrennen ist sie in der ganzen Gegend einsame Meisterin. Klar wie eine Träne, das Zeug. Nicht zu vergleichen mit dem trüben Gesöff hier in der Stadt, von dem man nur blind wird. In jeder Flasche schwamm eine kleine rote Schote. Gut für das Auge und erst recht gut für den Geschmack.»
    Vor lauter Begeisterung über Anjutas Brennkünste hatte es den Kolchosvorsitzenden weit vom eigentlichen Geschehen abgetrieben. Fast verschämt kam er auf die Geschichte mit dem Traktor zurück, nicht ohne einen letzten Satz zur Güte des «Perwatsch», des erstgebrannten Samogon, einzuflechten.
    «Nun, wir hatten alle ordentlich geladen. Da schwang sich Mischa auf sein Stahlross und ratterte in die Dunkelheit. Warum? Wieso? Keiner weiß es. Jedenfalls, Streit gab es keinen. Doch als er am nächsten Mittag immer noch nicht zurück war, wurden wir unruhig. Vielleicht ist er bei Dascha, meinten die einen. Nein, sagten die anderen. Da geht er nur hin, wenn es Lohn gab. Und jetzt ist erst Monatsmitte, da hat er keine Kopeke, für die Liebe schon gar nicht. Vielleicht ist er in die Stadt, vermuteten die Dritten. Aber ohne Auftrag der Kolchose, was sollte er dort, mitten in der Erntezeit? Und ob er einen Auftrag hatte oder nicht, musste ich als Vorsitzender ja wissen. Er hatte keinen.
    So konnten er und der Traktor nur in der Nähe

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