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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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sein. Ein Glück, die Spuren der Ketten ließen sich nicht übersehen. Wir machten uns also auf den Weg, Mischa zu suchen. Der Hurenbock hatte sich in seinem Tran auf keine Kompromisse eingelassen. Die Schneise der Verwüstung führte über Zäune und Gärten in die Felder. Beim alten Mitrocha hatte es beinahe das Haus erwischt, der Abortschuppen war jedenfalls platt. Mitrocha selbst saß gerade nicht drin. Na ja, besonders schade wäre es nicht um ihn gewesen. Als er und seine Alte uns sahen, stimmten sie das große Wehklagen an und wünschten dem Traktoristen die Pest an den Hals.
    Doch das mit dem Scheißhaus war halb so tragisch. War ja nur privat. Dass er einen gut Teil des volkseigenen Feldes mit dem reifen Korn platt gewalzt hatte, war schon schlimmer. Nach dem Feld ging es über die Wiesen zum Fluss. Ein Glück, die Kühe hatten die Mäuler nicht allzu neugierig herausgestreckt. Als wir kamen, glotzten sie allerdings noch immer ziemlich verstört.
    Dann machte die Spur einen Bogen Richtung Wäldchen und Sumpf. Da wurde es den Ersten mulmig. Wenn er den Traktor an einer der alten Kiefern zerwürgt hatte, konnte er etwas erleben. Doch Mischa hatte wohl in der Nacht nicht viel sehen können. So hielt er Kurs, sofern er in seinem Rausch überhaupt steuern konnte, an den Bäumen vorbei in die Senke, wo das Moor begann. Ein grausiger Ort. Kilometerweit, bis zum Fluss, nur stinkende Brühe. Allenfalls ein paar Hirten trauen sich dorthin. Und genau da führten die zwei fetten Linien seiner Kettenspuren hinein.
    Der Kater von dem Besäufnis, der mich den ganzen Morgen gepeinigt hatte, war augenblicklich weg. Die letzten paar hundert Meter bis zum Sumpf legte unser Suchtrupp im Dauerlauf zurück. Erst als der Morast in die Stiefel schwappte, blieben wir stehen. Von Mischa und, noch schlimmer, vom Traktor weit und breit nichts zu sehen. Da standen wir nun und schauten bedeppert. Irgendwann glaubte einer der Jungs, vierzig oder fünfzig Meter von uns entfernt an einem dürren Ast, mitten im Moor, die Jacke des Traktoristen zu erkennen. Wir kamen auch mit langen Stöcken nicht ran. Vom Traktor keine Spur, außer einigen regenbogenfarbenen Schlieren auf der Moorbrühe. Der Tank war nicht ganz dicht.
    Den Rest kann man sich denken. Ein paar Wochen konnte ich die Sache vertuschen. Dann holten sie mich ab: Sabotage am Volkseigentum. Der Vorsitzende trägt die Verantwortung für den Traktor.»
    Er wurde still.
    «Dass es gleich die Höchststrafe wird, nun ja, das ist Pech. Vielleicht hatten sie ja ihren Plan noch nicht erfüllt.»
    Er stand auf und ging hinüber zu seiner Pritsche.
    «Zu machen ist da nichts mehr.»
    Es folgte ein langes Schweigen. In Lorenz’ Kopf dröhnte es: Todesstrafe! Todesstrafe! Todesstrafe!
    «Und», beendete der Tatare die Pause, «fällt dir endlich etwas ein? Irgendwas musst du doch gemacht haben? Mich zum Beispiel haben sie mit zwei Säcken Zucker auf dem Bahnhof erwischt. Die stammten nicht aus einem Laden. Zu dritt hatten wir sie in einem Lager mitgehen lassen. Die anderen sind getürmt, ich war zu langsam. Nun bin ich ein Saboteur. Und was man mit denen macht, ist bekannt.»
    Lorenz zog laut und tief Luft in sich hinein, atmete langsam wieder aus. Das meiste von dem, was er da hörte, klang allenfalls banal. Konnte man wirklich wegen eines Unfalls mit einem Traktor, den der Betreffende noch nicht einmal selbst verursacht hatte, oder wegen zwei gestohlener Säcke Zucker Menschen erschießen?
    Offensichtlich konnte man.
    «Was bist du überhaupt für ein Landsmann?» Der Tatare ließ nicht locker. «Und wo haben sie dich gegriffen?»
    Es dauerte, bis Lorenz bereit war, auf die Fragen zu antworten. Hatte es Sinn, offen zu sein, oder empfahl es sich eher, alles im Ungefähren zu halten? Wer wusste schon, wer hier in der Zelle mit welchem Auftrag saß? So hielt er sich knapp mit seiner Erzählung.
    Der Kolchosvorsitzende rieb sich die kurzen Bartstoppeln.
    «Das ist nicht viel. Aber sie mögen es gar nicht, wenn einer nicht spuren will. Vielleicht hast du ja den Bogen überspannt …»
    Als Lorenz noch hinzufügte, dass er Deutscher sei, und zwar nicht von der Wolga, sondern aus dem Reich, pfiff der Tatare leise.
    «So einen vor die Wand zu stellen ist für die Herrschaften ein besonderes Fest.»
    Auf Lorenz’ Entgegnung, er sei Kader der Komintern, folgte nur die trockene Bemerkung:
    «Ob Kader oder nicht, für die sind alle Deutschen doch nur Faschisten. Egal, wen du da noch in Moskau kennst.

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