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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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Und die hier geborenen Schmidts und Kochs oder wie sie noch alle heißen, sind für die nicht viel besser. Alles Spione.»
    Den Mennoniten schien das alles nicht sonderlich zu interessieren. Sicher war es sein Glaube, der ihn auch unter diesen Umständen entspannt, ja fast zufrieden aussehen ließ.
    «Iss nur, iss.»
    Er sorgte sich um Lorenz, als hätten sie noch viel vor.
    «Weißt du, wenn dir das mit dem Brot und der Butter nicht genug Komfort ist, kannst du auch die Wachleute bitten, dass sie dich zum Zahnarzt führen», schaltete sich der zweite Kartenspieler ein. «Das Recht auf eine vernünftige Verteidigung hast du nicht, aber zum Zahnarzt darfst du gern gehen. Sind ja keine Unmenschen. Es sähe ja auch hässlich aus, wenn die Sowjetbürger da oben nicht nur mit Löchern im Fell, sondern auch noch mit Lücken im Gebiss ankämen.»
    Er lachte fröhlich über seinen Witz.
    «Aber empfehlen würde ich es dir nicht. Der Zahnklempner hat einen denkbar schlechten Ruf. Der läuft hier unter Folter.»
    Tage vergingen. Kein Verhör. Kein Hofgang. Keine Aufforderung, etwas zu tun oder zu lassen. Alle seine Versuche, den Wachleuten eine Information zu entlocken oder sie auf einen Fehler hinzuweisen, schlugen fehl. Sie übersahen ihn einfach. Der ersten Aufregung folgte das Entsetzen, dann das Stadium des «Eigentlich-ist-alles-egal». Die anderen in der Zelle hatten es längst erreicht. Bis eines Abends zu ungewohnter Zeit das Schloss umgedreht wurde und ein Leutnant auf der Schwelle erschien. Zwei bewaffnete Soldaten standen wenige Schritte hinter ihm. Die Bewohner der Zelle erstarrten. Keiner rührte sich. Keiner fragte etwas.
    Der Offizier holte ein Blatt Papier hervor und sagte:
    «Buchstabe K.»
    Es folgte eine lange Pause. Dann hörte man aus der Tiefe des Raumes leise:
    «Kisly.»
    Das war der Jüngste in der Zelle. Angeblich hatte er in trunkenem Zustand den Nachbarn schwer verprügelt. Der stieg seiner Mutter nach, die genug damit zu tun hatte, drei Kinder allein aufzuziehen. Dumm nur, der Nachbar war eine große Nummer im Stadtsowjet, so bekam die Sache einen politischen Anstrich. Der Junge sollte in einem Schnellverfahren wegen schweren Rowdytums verurteilt werden. Doch dem Richter war das nicht genug. In der Verhandlung wurde aus dem Rowdytum ein versuchter Anschlag auf den örtlichen Sowjet. Das Resultat: Höchststrafe.
    «Nein», erwiderte der Uniformierte.
    «Koslow», fragte ein weiterer stockend.
    «Nein», antwortete der Uniformierte wieder.
    «Kutschnoi», hörte Lorenz den Kolchosvorsitzenden halblaut, fast wie eine Bestätigung, sagen.
    «Ja.»
    «Mit Sachen?»
    «Mit Sachen.»
    Alle im Zimmer schauten zu, wie der Mann langsam sein schwarzes Jackett anzog, Mütze und Schal aus dem grünen Rucksack am Fußende seiner Pritsche holte und mit schwerem Schritt Richtung Tür ging. An der Schwelle hielt er einen Moment inne, drehte sich um und sagte jedes Wort einzeln gewichtend:
    «Ne pominaite lichom …»
    Denkt nicht schlecht von mir. Man sagt das in Russland vor einer langen Reise oder wenn einem ein Gang ins Ungewisse bevorsteht.
    Alles verlief nach strengen Regeln. Für gewöhnlich wurde niemand nach zehn Uhr abends geholt, so konnte man wenigstens bis zum nächsten Morgen einigermaßen ruhig schlafen oder sich zumindest einbilden, es zu können. Die Soldaten betraten die Zelle nicht, sondern blieben auf dem Gang stehen. Der Name dessen, der sterben sollte, wurde nicht genannt, nur der Anfangsbuchstabe des Nachnamens. Er selbst musste seinen Namen sagen; kamen mehrere Gefangene in Frage, antworteten sie in alphabetischer Reihenfolge.
    Zwei weitere Wochen folgten. Lorenz befand sich in einer Art Dämmerzustand. Was um ihn herum geschah, bewegte ihn immer weniger. Er aß, schlief und sprach kaum. Am Tag lag er auf seiner Pritsche, mit dem Gesicht zur Wand. Längst wollte er von all den Ratschlägen, die ihm die altgedienten Häftlinge in Engels auf den Weg gegeben hatten, nichts mehr wissen. Warum sollte er jetzt noch für Beschäftigung und Bewegung sorgen? Wofür sollte er sich noch gesund halten, wenn sowieso bald Schluss war? Widerstandskraft für Verhöre war nicht mehr nötig. Und auf eine lange Etappe im Viehwaggon sollte es auch nicht gehen. Also wofür?
    Es war an einem späten Montagabend. Sie hatten keinen Kalender, aber mit dem Wechsel der Wachdienste begann stets eine neue Woche. Die Spieler hatten ihren Kartenstoß ein letztes Mal auf den Hocker geschlagen. Bald würde das Licht

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