Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
Sitten des Lagerlebens überlassen.
Das Empfangskomitee der Baracke Nr. 12 wartete schon an der Tür: der Stubenälteste und ein «Freund des Volkes». Ein mehrfacher Mörder, soweit man den Geschichten glauben durfte. Wie alle anderen musste auch Lorenz seinen Koffer, in dem sich inzwischen kaum noch etwas Brauchbares fand, abgeben. Zuerst dachte er, es sei eine Routinekontrolle. Doch das stellte sich sehr bald als Irrtum heraus. Nichts von den Sachen sah er je wieder. Auch den Koffer nicht. Die Ganoven teilten die «Schmotki», wie sie die armselige Habe der verängstigten Neuankömmlinge nannten, unter sich auf. Was etwas taugte, wurde gegen Tabak und Zucker getauscht.
Lorenz blieb neben der blauen Wattejacke nur noch das, was er am Körper trug. Für den Ort mochte es nicht ganz die passende Bekleidung sein, doch trotz aller Strapazen der vergangenen Wochen und Monate hatte sich sein geliebter Anzug passabel gehalten. Jedenfalls stach Lorenz mit ihm aus dem bunten Sammelsurium, das die anderen Barackenbewohner trugen, deutlich hervor. Kein Wunder, der Anzug stammte von einem der teuersten Herrenausstatter Dortmunds. Er hatte ihn all die Jahre in Moskau und in Engels mit Sorgfalt gehütet. Nicht nur, weil er darin besonders gut aussah, sondern weil er ihn an eine ungewöhnliche Geschichte und eine außergewöhnliche Frau in Deutschland erinnerte.
Mathilda hatte sich seinerzeit in den jungen, redegewandten Arbeiterburschen verliebt. Es störte nicht, dass sie eine «von» und mit einem hohen Tier aus der Stahlbranche in Essen verheiratet war. Um einige Jahrzehnte älter, kannte der nur noch zwei Leidenschaften: Aktien und Jagen. Die junge Frau brauchte er allenfalls einmal wöchentlich, damit er sich bei einem Empfang mit ihrer Schönheit schmücken konnte. Der Rest interessierte ihn wenig. So auch die für ihren Stand reichlich ungewöhnliche Neigung, sich auf allerlei politischen Versammlungen herumzutreiben. Von denen gab es Ende der zwanziger Jahre in Deutschland ein Überangebot.
Sie bevorzugte Kommunisten, Anarchisten, aber auch Trotzkisten und konnte ihren temperamentvollen Reden stundenlang zuhören. Ein leiser Schauer lief ihr über den Rücken, wenn von Weltrevolution oder der «Expropriation der Expropriateure» die Rede war. Letzteres übersetzte sie nicht als Enteignung der Besitzenden, sondern als Abstechen. Das Schwärmen von einer besseren Zukunft, das revolutionäre Glühen der Augen, das alles fesselte, ja verzauberte Mathilda. Auch sie war für eine gerechtere Welt, Weltrevolution, Chauffeur und Dienstmädchen inklusive.
Lorenz gefiel ihr sofort. Sie ihm auch. Als er ihr ins Ohr hauchte, dass es um den Dichter des populären Schlagers «Wenn der weiße Flieder wieder blüht» ein Geheimnis gebe, das nur er zu lüften vermöge, war sie ganz und gar hingerissen. Lorenz kannte neben den gängigen drei noch weitere vier Strophen. Mehr Beweis, dass sie es mit einem Poeten zu tun hatte, bedurfte es nicht. Mathilda vergaß die Ruhr und kam sich vor wie in der Boheme an der Seine.
Die aufregende Episode fand ihr jähes Ende, als Lorenz überstürzt aus Deutschland fliehen musste. Er wurde per Haftbefehl gesucht. Mathilda fand die Nachricht ärgerlich, sie mochte es nicht, wenn man ihr das Spielzeug nahm, aber sie bewies praktischen Verstand. Ihr Held, der sofort untertauchen musste und keine Mark besaß, wurde in Dortmund ausstaffiert. Zwei Anzüge aus einem der vornehmsten Herrengeschäfte, mehrere Paar Schuhe, darunter feste für den Winter, und alles, was noch so dazugehörte, einschließlich einer Brieftasche plus Inhalt.
Als Lorenz über einige Umwege in Moskau ankam, war er eingekleidet wie kein Zweiter der jungen Emigranten. Was den einen oder anderen Genossen misstrauisch stimmte: Ein einfacher Schlosser aus dem Ruhrgebiet trug nicht solche Anzüge. Wenn ihr wüsstet, dachte Lorenz nur. Denn mindestens so aufregend wie Mathildas Großzügigkeit war die erste Wegstrecke seiner Flucht aus Deutschland. Mathilda zog den Gejagten kurzerhand auf die Rückbank ihres Mercedes, schloss das Fenster zum Fahrer, spannte das Rollo, und ab ging’s Richtung Amsterdam. Es sollte die schönste Autofahrt seines Lebens bleiben. Die Beamten an der Grenze winkten den Wagen, der nur einem Ruhr-Baron gehören konnte, ehrfürchtig durch. Bequemer konnte man eine Grenze illegal nicht passieren. Zumal auf Mathilda die Gefahr wie ein Aphrodisiakum zu wirken schien. Während sich Lorenz keineswegs sicher war,
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