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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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verständlich zu machen. Aber beide konnten Deutsch. Ein glücklicher Zufall: Der Skandinavier hatte in Deutschland studiert, während der Japaner auf eine deutsche Erzieherin daheim in Tokio verweisen konnte. Damit sich der Bootsmann nicht ausgeschlossen fühlte, übersetzte ihm Lorenz das Wichtigste ins Russische, was ihm das Misstrauen der Wachen eintrug. Die waren selbstverständlich davon überzeugt, dass ein Deutscher, der fließend Japanisch, Norwegisch und Russisch sprach, nur ein ganz ausgebuffter Spion sein konnte.
    Die Geschichte des Matrosen klang verrückt. Aber «normale» Geschichten gab es in dieser Welt ohnehin nicht. Sein Boot war in der Ostsee infolge eines technischen Schadens auf Grund gelaufen. Nur wenige Besatzungsmitglieder konnten sich retten. Der Bootsmann zog den Kapitän aus dem Wasser. Doch die Freude über die Rettung währte nicht lange: Alle Überlebenden wurden verhaftet und zu zehn Jahren wegen Sabotage verurteilt. Ein sowjetisches U-Boot konnte und durfte nicht havarieren. Der unter Lebensgefahr gerettete Kapitän wurde erschossen.
    Nun fühlte sich der Seemann offensichtlich verpflichtet, Lorenz in seiner Bedrängnis beizustehen.
    «Komm, nimm meinen Buschlat», forderte er ihn auf.
    Den Buschlat, eine russische Matrosenjacke aus dunkelblauem Wollstoff, hatten die Ganoven auch schon im Auge. Aber vorerst ging es um das gute Jackett aus Dortmund.
    «Komm, nimm», wiederholte er, «musst keine Angst haben. Ich mach das schon.»
    Lorenz reichte ihm das Jackett, was sofort zu grölendem Protest der Urki führte. Der glücklose Spieler eilte herbei. Gerade wollte er dem Matrosen die Jacke aus der Hand reißen, da knurrte der ihn an. Lorenz verstand nicht, was gesagt wurde. Es klang wie eine fremde Sprache, fast Russisch, aber doch nicht ganz, die Aussprache mehr als sonderbar. Doch nicht nur er schien verwundert. Der Kartenspieler ließ sofort von dem Matrosen ab und blieb wie versteinert stehen.
    Das konnte nur eins bedeuten: Michail sprach jene geheime Sprache der Kriminellen, von der Lorenz schon einiges gehört hatte, an deren Existenz er aber bisher nicht glauben mochte. Der Bootsmann stand auf und ging, das Jackett über die Schultern gelegt, zum Ofen. Auch dort musste er nur ein paar Worte hinwerfen, und Lorenz sah mit Erstaunen, wie man ihm ein Glas Tee reichte. Mit Zucker. Einer der Atamane holte persönlich für Michail einen Hocker. Dann ging er zum Kartenspieler, der sich verzogen hatte. Es folgte eine kurze, aber heftige Ansprache, schließlich hörte man nur noch unterwürfiges Stammeln:
    «Ich wollte doch nur …»
    Er kam nicht dazu, noch etwas zu sagen. Ein brutaler Schlag ins Gesicht ließ ihn auf die Pritsche stürzen. Aus der Nase spritzte Blut. Der Ataman blieb unentschlossen stehen und rieb sich nervös die Faust. Er dachte wohl darüber nach, ob es sich lohnen würde, noch einmal nachzufassen, oder ob es schon reichte.
    Nach einer guten Stunde kam der Bootsmann zurück und legte Lorenz das graue Jackett auf die Pritsche.
    «Keine Sorge, der kommt nicht wieder.» Es klang sehr ruhig.
    «Wie hast du das gemacht, und was bin ich dir schuldig?», erwiderte Lorenz. Der Matrose lächelte nur.
    «Nicht nur unser Japaner stammt aus einer guten Familie, ich auch. Aus Odessa. Du kennst ja den Spruch, wonach in unserem unermesslichen Reich der Vater eines echten Ganoven aus Rostow und die Mutter aus Odessa kommen muss. Moskau mag die Hauptstadt aller Sowjetmenschen sein, Odessa ist die Hauptstadt der Unterwelt. Und mein Onkel ist einer ihrer Fürsten. Die Odessiden sind unter ihresgleichen eine Macht. Glaube mir, der Bursche hat jetzt mehr Angst als du.»
    Er deckte sich mit dem Buschlat zu, drehte sich auf seiner Pritsche um und schlief ein. Dennoch, Lorenz hielt an seinem Entschluss fest, den Anzug schnellstens einzutauschen.
    Am nächsten Morgen wurden sie, begleitet vom Bellen der Hunde, in die Dunkelheit hinausgetrieben. Der Eiswind heulte immer noch. Was am Abend versäumt wurde, holte die Lagerleitung jetzt nach: antreten, durchzählen, neu verteilen. Die Strahlen der Scheinwerfer sammelten sich auf dem Appellplatz. Mann für Mann wurden die Gefangenen aufgefordert, nach vorn zu treten, Name, Beruf und den Grund ihrer Haft zu nennen. Lorenz hatte den Kopf, so tief es ging, in die Wattejacke gezogen und die Ohrklappen der Schapka fest zugebunden. Trotzdem dauerte es nicht lange, und der stechende Wind ließ ihn zittern. Endlich wurde nach der endlosen Reihe russischer

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