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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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dass der Fahrer nichts hören oder sehen konnte, nutzte Mathilda den Schwung einer Kurve, um den jungen Revolutionär zu sich herüberzuziehen. Ein Abenteuer wie im Kino. Und sie war mittendrin. Gemeinsam mit ihrem Rudolfo Valentino auf der Flucht.
     
    Verständlich, dass Lorenz an dem Anzug ganz besonders hing. Doch jetzt hieß es wohl, Abschied zu nehmen. Er hatte sich auf eine Pritsche gelegt, vor Erschöpfung fielen ihm sofort die Augen zu. Aus der Ferne hörte er nur die Kartenspieler am Ofen krakeelen. Einer der Spielenden erregte sich derart, dass Lorenz ärgerlich zu ihm hinüberschaute. Seltsam, der Schreihals zeigte immer wieder in seine Richtung. Das gefiel Lorenz nicht. Es dauerte eine Weile, dann begriff er, worum es ging. Der Bursche hatte alles verspielt und bot jetzt das Jackett des Neuankömmlings als Pfand. Sein Jackett. Darüber, welchen Wert der ganze Anzug haben sollte, gab es auch schon einen heftigen Disput. Bei Siebzehn und Vier brauchte man nicht lange auf die Fortsetzung der Geschichte zu warten.
    Der Kartenspieler kam entspannt auf Lorenz zu. Er roch nach Schnaps, was Lorenz unter den gegebenen Umständen besonders irritierte. Woher sollten die hier in diesem elenden Loch den Wodka haben? Das aufgedunsene Gesicht des Mannes, das von makellosen, aber vom Machorkarauchen braunen Zähnen beherrscht wurde, ließ an seiner Entschlossenheit keinen Zweifel. Seine Nase war ihm offensichtlich bei einer Schlägerei gebrochen worden und schief zusammengewachsen. Sicher war er größer als Lorenz. Aber nicht darin lag die Bedrohung. Selbst wenn es Lorenz gelingen sollte, den Kerl mit einem Überraschungsschlag hinzustrecken, seine Kumpane wären sofort zur Stelle. Und dann Gnade ihm.
    «Hey, Nemetz, gib deine Jacke meinem Freund da drüben. Der wartet schon. Mach keine Sperenzchen!»
    Er zeigte mit dem Finger auf einen der Urki und schlenderte ohne Eile zu seinem Platz am Ofen zurück. Er war dran mit dem Kartenmischen. Immerhin hatte er «Nemetz», Deutscher, gesagt und nicht «Faschist».
    Lorenz zögerte. Gleich am ersten Tag den Zorn der Kriminellen auf sich zu ziehen, das hieß den sicheren Tod suchen. Er schaute dem Kartenspieler nach, blieb aber auf der Pritsche liegen. Es ging ihm nicht nur um den Anzug. Trotz all der Schrecken der letzten Monate hatte er einen Rest Selbstachtung nicht verloren. Andere verharrten längst in einer Art Dämmerzustand, ließen apathisch alles über sich ergehen. Von den Mitgefangenen erwarteten sie allenfalls Gemeinheiten und waren selbst für ein Stück Brot oder für eine Kippe zu jeder Gemeinheit fähig. Mitgefühl galt als Schwäche. Wer schwach war, hatte keine Chance.
    Er wusste, es führte kein Weg daran vorbei, sich von dem Anzug zu verabschieden. Wenn es nicht heute passierte, dann eben morgen oder in einer Woche. Längst war ihm klar, alles, was aus dem Rahmen fiel, Jacke, Stiefel, Hose, alles sorgte für Begehrlichkeiten und damit für Gefahr. So beschloss er, wenn an diesem Abend von seinen «Wertsachen» etwas übrig bleiben sollte, würde er es gegen etwas Brauchbares tauschen. Schon am nächsten Tag. Doch das wäre erst morgen. Heute und jetzt hatte er zu entscheiden: Gibst du das Jackett freiwillig aus der Hand oder nicht?
    Da spürte er, wie ihn sein Nachbar anstieß. Es war Michail, der Matrose. Vor der Verhaftung hatte er als Bootsmann auf einem U-Boot gedient. Sie freundeten sich beim Marsch durch die Wildnis an. Zu ihrer Gruppe gehörten noch ein Norweger und ein Japaner. Da sie aus verschiedenen Himmelsrichtungen auf den Todestreck geraten waren, gab es viel zu erzählen. Das machte nicht nur die Strapazen des Marsches etwas erträglicher, sondern sie waren als Gruppe auch wehrhafter. So blieb ihnen das Schicksal anderer Gefangener erspart, die von den Wachen gezielt in einem Waldstück mit ein paar Kriminellen aus der Kolonne allein gelassen wurden.
    Der Norweger hatte früher eine Leningrader Boxmannschaft trainiert, der Japaner Moskauer Milizionären Jiu-Jitsu beigebracht. Beide waren wegen Spionage verhaftet worden, beide bekamen «die volle Spule», wie es unter den Gefangenen hieß. Also zehn Jahre Lagerhaft. Dagegen hatte Lorenz mit seinen fünf Jahren, die ihm ein Saratower Spezialgericht auf dem Weg in die Arktis nachgereicht hatte, nur eine «Kinderfrist». Dass daraus weit mehr wurde, konnte er zu dem Zeitpunkt nicht ahnen.
    Der Norweger und der Japaner sprachen so schlecht Russisch, dass sie Mühe hatten, sich überhaupt

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