Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
Vom Netzwerk:
hier?»
    «Na hier, im Lager.»
    «Im Lager?»
    «Ja, glauben Sie, Genosse Oberstleutnant, jemand könnte einfach so aus dem Lager spazieren? Ohne dass Sie es merken?»
    «Nein, das glaube ich wirklich nicht.»
    «Und würde ich, wenn ich die Absicht hätte zu fliehen, mich dann freiwillig hier bei Ihnen melden?»
    Tarakanow dachte nach. Irgendwas stimmte nicht. Sicher sein, dass seine Deppen überall nachgesehen hatten, konnte er nicht.
    «Sie sind Deutscher? Aus dem Reich?»
    «Ja.»
    «Und wollen Sie nicht in die Heimat zurück?»
    «Würden Sie zu den Faschisten wollen?»
    «Ich? Natürlich nicht!»
    «Ich auch nicht.»
    «Die anderen sind alle weg.»
    «Alle?»
    «Ja, alle.»
    «Auch solche, die von der Gestapo gesucht werden?»
    «In Moskau wird man wissen, was richtig ist.»
    «Und was meinen Sie?»
    «Ich meine, ich habe hier genug zu tun. Nach dieser Geschichte werden wir für Sie eine neue Beschäftigung suchen müssen.»
    «Aber Kruglow …»
    «Da wird sich Kruglow einen anderen anlachen müssen, der für ihn die Arbeit macht. Ab sofort geht es in die Ziegelei. Die Lehmgrube dürfte das Richtige sein. Da finden wir Sie wenigstens.»
    «Aber Genosse Oberstleutnant, in der Werkstatt könnte ich viel mehr für den Aufbau des Kommunismus von Nutzen sein …»
    «Die Sache ist beschlossen, keine Widerrede. Sie haben es noch immer nicht begriffen. Und Sie wollen ein intelligenter Mensch sein. Waren sogar auf der Universität. Das Lager ist keine Strafe, es ist eine Reinigung. Eine Reinigung der Gesellschaft. Der ganze Dreck muss ans Tageslicht. Eigentlich sollte jeder Sowjetmensch einmal im Leben ins Lager … Zur Reinigung.»
    Tarakanow war vom Tisch aufgestanden und schaute wieder sinnend aus dem Fenster. Auf dem Brett stand sein kalt gewordener Tee. Er nahm den Metalluntersetzer mit der in falsches Silber geprägten Silhouette des Kreml, rührte den dunklen Sud durch und setzte in sich gekehrt seine Rede fort, ohne dass Lorenz sicher sein konnte, ob er überhaupt zu ihm sprach:
    «… die haben es alle nicht verstanden. Nur der Genosse Stalin, da bin ich sicher, der weiß es: Das Lager ist die kleinste Zelle des Kommunismus! Nur so lässt sich die lichte Zukunft bauen. Überall Lager. Jeder Rajon, jede Stadt sollte ihr Lager haben. Da dürfen wir keine Anstrengungen scheuen. Kein falsches Mitleid. Nur so schaffen wir den neuen Menschen.»
    Er schaute aus den Augenwinkeln schräg hinüber zum Mechaniker, der immer noch in der Mitte des Zimmers stand. Ein verächtliches Lächeln verzerrte für einen Moment seine Lippen. Auch dieser Deutsche kapierte offenbar nicht, welch geniale Idee ihm gerade dargebracht wurde. Es war das erste Mal, dass er diesen Gedanken laut äußerte. Einen Gedanken, der ihn schon seit langem umtrieb. Er war davon überzeugt, er musste ihn nur an der richtigen Stelle anbringen, dann würde es schon mit ihm nach oben gehen. Steil nach oben. Schon sah er sich auf dem Allunionskongress des NKWD im Kreml zum Rednerpult schreiten. Neidvoll blickten ihm die anderen nach. Nur der Genosse Stalin nickte ihm wohlwollend zu: Sprechen Sie, Genosse Tarakanow, über das Lager und den Kommunismus. Und euch, Genossen, empfehle ich, gut hinzuhören. Wir haben es bei dem Genossen aus Workuta mit einem talentierten Kader zu tun, der die komplizierte Materie des Aufbaus des Kommunismus voll und ganz durchdrungen hat.
    Ja, genau so würde der große Führer sprechen. Und er, Tarakanow, er würde seine Rede halten, er würde lange sprechen, seine Erfahrungen gründlich darlegen. Aber dann am Ende, dann würde der Vater der Völker aufstehen und ihn umarmen. Nicht enden wollender Applaus würde den Saal erfüllen.
    «Wenn das die Zukunft ist, wäre es da nicht viel günstiger, einen Stacheldrahtzaun gleich um das ganze Land zu ziehen?»
    Die Erwiderung riss den NKWD-Chef aus seinen Gedanken.
    «Gehen Sie. Die Arbeit in der Lehmgrube wird Sie zu neuen Einsichten bringen.»
    Lorenz drehte sich zur Tür.
    «Es wäre sicherlich gut, wenn Sie Ihren Leuten sagen würden, dass Sie mich gefunden haben. Sie wissen ja …»
    «Hinaus. Denkst du, ich will einen Toten vor der Zentrale liegen haben?»
    Dieser Deutsche verstand natürlich nichts. Gar nichts.
    Tarakanow konnte nicht wissen, wie sehr er mit dieser Feststellung recht behalten sollte. Wenige Wochen später wurde er erschossen. Auch seine Genossen hatten ihn anscheinend nicht verstanden. Tarakanow konnte nur verrückt oder ein Abweichler sein. Es lief auf

Weitere Kostenlose Bücher