Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
Brot, das ihm Sascha zugesteckt hatte, auf den Tisch, riss sich einen Kanten ab und schob den Rest in die Mitte, er hätte es sowieso nicht länger verwahren können. Sofort war es in Stücke gerissen. Nur einer von denen, die etwas abbekommen hatten, bedankte sich. Die anderen hielten ihn wohl eher für beschränkt.
Trotz der Kälte ging Lorenz hinaus vor die Tür. Er wollte allein sein. Dass er von einem Tag auf den anderen die Werkstatt verlassen musste, hatte ihm weit mehr zugesetzt, als er vor sich selbst zugeben wollte. Gerade hatte das Leben begonnen, etwas erträglich zu werden, da stießen sie ihn wieder hinunter. Er zündete sich eine von Saschas Zigaretten an und schaute über den Fluss.
Ein lautes Scheppern ließ ihn zusammenzucken. Sie schlugen mit dem Hammer auf ein Stück Eisenbahnschiene, die Häftlinge wussten, sie hatten sich unverzüglich einzufinden. Lorenz zögerte, er sah, wie eine Draisine heranrollte. Als das Gefährt an der Ziegelei ankam, erkannte Lorenz unter den drei Männern, die das Gestänge hoch- und runterdrückten, abermals Sascha Bauer. Der winkte ihm zu und marschierte geradewegs ins Kontor des «Natschalniks». Der Büroschuppen schmiegte sich seitwärts an das Hauptgebäude der Ziegelei. Aus seinem Dach ragte ein glühend rotes Ofenrohr, das fast so etwas wie Gemütlichkeit verbreitete.
Es dauerte nicht lange, da flog die Tür des Kontors wieder auf; Sascha kam heraus, an seiner Seite der Ziegeleichef, auf den er energisch einzureden schien. Sie liefen über den Hof zum Wochra-Offizier, der ebenfalls in einer Bretterbude sein Hauptquartier hatte. Auch dort dauerte das Gespräch nicht lange. Zu dritt kamen sie zurück, nahmen jetzt Kurs auf die großspurig «Stolowaja» genannte Bracke, in deren Tür Lorenz immer noch lehnte.
«Der da?», fragte der Unterleutnant, mit dem Finger auf ihn zeigend. «Was macht ihr wegen so einem Muschik für ein Theater? Ihr könntet davon auch drei oder vier haben. Hautsache, ihr habt noch ein paar Fläschchen. Keine mehr? Schade. Nimm ihn mit, bevor ich es mir anders überlege.»
Inzwischen waren sie an der Tür der Kantine angekommen.
«Was? Eine Unterschrift wollt ihr auch noch von mir?»
Der Uniformierte tat empört, aber sein Unterton verriet, dass er jetzt nur noch ans Trinken dachte.
«Aber Genosse Unterleutnant …» Sascha faltete ein Blatt Papier auseinander und zog einen Kopierstift aus der Hosentasche. Lorenz erkannte ihn sofort. Merkwürdig, selbst ein Stift konnte einen Menschen bewegen. Es war der Kopierstift, der stets auf seinem Tisch in der Werkstatt gelegen hatte. «… Sie wissen doch, bei uns im Sowjetland muss alles seine Ordnung haben. Wenn Sie bitte so freundlich wären, hier die Übergabe zu unterschreiben. Wunderbar. Und schon sind wir weg.»
Er schnappte Lorenz an seiner lehmverschmierten Wattejacke und zerrte ihn eilig zur wartenden Draisine. Kaum waren sie aufgesprungen, da legten sie zu viert los, Richtung Fluss. Als die Ziegelei hinter einer Biegung verschwunden war, brüllte Lorenz gegen das Rattern der Räder an.
«Sascha, wie hast du das gemacht? Die verzichten doch nicht freiwillig auf einen Sklaven.»
«Das war nicht allzu schwer», schrie er zurück in den Wind. «Ich habe dem Ziegeleichef Grüße von Kruglow bestellt und ihm gesagt, dass wir nie wieder etwas für sie reparieren, wenn sie dich nicht sofort an uns delegieren. Du weißt ja, wir sind für die Betriebe auf der anderen Seite des Flusses überhaupt nicht zuständig. Und wenn seine Ziegelpresse erst mal ein paar Tage steht und sein Plan brennt, dann machen sie ihm Feuer unter dem Arsch. Das hat er sofort begriffen. Und dem Offizier habe ich eine Flasche Spiritus mitgebracht. Dafür verkauft er seine Mutter an den Teufel. Nur unterschreiben wollte er zuerst nicht.»
Die Draisine ratterte mit lautem Getöse über die Brücke.
«Aber falls Tarakanow mitbekommt, wo du abgeblieben bist, ist es allemal besser, einen Wisch zu haben.»
Lorenz nickte anerkennend:
«Mensch, Sascha.» Er konnte nicht weitersprechen, Rührung hatte sich auf seine Stimme gelegt. Ein lange vergessenes Gefühl.
Es war der letzte Tag des Jahres. Schneesturm. Wie konnte es anders sein. Hell wurde es nicht, trotzdem mussten sie auf den Appellplatz. Durchsicht. Der Lagerkommandant wollte wissen, ob noch alle da wären. Das hieß nur eines: stundenlanges Warten und Frieren. Dann wieder diese endlose Reihe russischer Namen mit «K»: Karow, Kirin, Kobrin, Komarow,
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