Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
das Gleiche hinaus.
Am nächsten Morgen musste Lorenz mit allen anderen aus der Baracke ausrücken. Er bekam nicht einmal mehr die Möglichkeit, seine Leute in der Werkstatt zu benachrichtigen. Die Köpfe tief auf die Brust gesenkt, eingepackt in alles, was die Männer besaßen, stampften sie im schneidenden Wind an der Bahnlinie entlang Richtung Ziegelei.
Der Weg führte über eine Eisenbahnbrücke, die zwar gut für Waggons, aber schlecht für Menschen war. Die Freiräume zwischen den Schwellen waren nicht ausgefüllt. Aus großer Höhe konnte man tief unten das Wasser zwischen den gewaltigen Findlingen brodeln sehen. Hier in den Schnellen war es noch nicht völlig gefroren. Ganz anders auf der Brücke: Die gesamte Konstruktion hatte der Frost dick mit Eis überzogen. Trotz aller Schreie und Drohungen konnten sich einige Häftlinge nicht entschließen, ihren Fuß auf die Brücke zu setzen. Zu all der Aufregung kam noch das Pfeifen einer Rangierlok, die ungeachtet des Auflaufs munter auf die Brücke zuhielt.
Lorenz blieb ganz still.
Die Höhe, das Eis, der schneidende Wind, das alles störte ihn weniger. Die Arbeit in der Lehmgrube der Ziegelei war dagegen etwas, was man wirklich fürchten musste. Da der Lehm wegen der zehn Monate Winter und des Dauerfrostbodens kaum auf gewöhnliche Weise abgebaut werden konnte, förderte man ihn unter Tage. Eine grauenvolle Schinderei. Technik gab es so gut wie nicht. Der Lehm musste förmlich mit den Händen herausgekratzt werden. Dazu die schlechteste Verpflegung, die man sich denken konnte. Ihm war klar, lange würde er das nicht durchhalten.
Die Lok donnerte mit Getöse über die Eisenbrücke, nahm schon wieder Fahrt auf, da quietschte es plötzlich. Jemand musste die Notbremse gezogen haben, zumindest hörte es sich so an. Die Lok blieb stehen, fauchte mehrfach, als überlegte sie, wohin es gehen sollte, und rollte zischend zurück. Einen Moment später sah man das erhitzte Gesicht Sascha Bauers aus dem Fenster. Er schrie schon von weitem:
«He, Lorenz, was machst du hier?»
«Na, Sascha, was soll ich schon machen? Tarakanow hat mich in die Lehmgrube verkauft. Zur Strafe, weil ich nicht zu den Nazis wollte.»
«Das glaube ich nicht. Der ist doch verrückt.»
«Wie recht du hast, aber es hilft nichts.»
«Na, das werden wir doch mal sehen».
Er sprang von der Lok und reichte Lorenz etwas Brot, eingewickelt in einen Fetzen Zeitungspapier, und eine angerissene Schachtel Papirossy.
«Nimm das, für heute dürfte es reichen. Ich kümmere mich. Hab da so ’ne Idee.»
Schon sprang er auf, wieder ertönte der durchdringende Pfeifton, die Lok dampfte davon.
Als sie in der Ziegelei ankamen, ging es sofort in die Grube. Wer keine Stiefel hatte, und das waren die meisten, stand bis zu den Knien in der Lehmpampe. Die Aufbauten, mit denen die Wände und die Decke abgestützt waren, sahen abenteuerlich aus. Schon in den Kohleschächten Workutas war der Standard der niedrigste, den Lorenz je gesehen hatte. Doch was man hier tat, war einfach nur kriminell. Das Material, irgendwie und irgendwo zusammengesuchte Holzpfosten und Bretter, mit denen man nicht einmal eine Kuhweide hätte einzäunen wollen, war ohne sichtbares System kreuz und quer übereinandergenagelt. Es kam einem Wunder gleich, dass die Stützen dem Druck noch standhielten.
Lorenz bekam eine Schaufel vor die Füße geworfen, die bereits ein Eigengewicht hatte, das einen verzweifeln lassen konnte. Noch schlimmer hatten es jene erwischt, die sich mit Trage oder Schubkarre abquälen mussten. Beides unförmige Geschütze, unsagbar schwer. Obwohl die Schubkarre ein Rad hatte, geflickt, aber immerhin, bedurfte es eines zweiten Mannes, um das Monstrum hinauf zur Ziegelpresse zu hieven. So packte einer hinten die beiden weit abstehenden Griffe, der andere zog an einem Strick, der über die Schulter gelegt war und die Haut blutig rieb. Wehe, einer von beiden kam ins Rutschen, dann sackte die elende Ladung wieder in die Grube.
Flüche, Schreie, Tritte waren die Folge. Die Gefangenen gingen grob und gemein miteinander um; lehmverschmiert, wie sie waren, hatten sie kaum noch etwas Menschliches an sich. Lorenz musste an Natterngezücht denken, das in großer Zahl, blutkalt und ungerührt, in der Höhle übereinander hinwegkroch. Hier war jeder nur mit dem eigenen Überleben befasst.
Zu Mittag durften sie aus der Grube, hinauf in die Verpflegungsbaracke. Stinkende Kohlsuppe wurde in Schüsseln gegossen. Lorenz packte das
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