Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
hatten zwei Latten locker gemacht, damit er hindurchkonnte. Das hatte Gründe. Sein Herr, der ausgediente Bergarbeiter Roß, mochte die Ausflüge seines Hundes nicht. Lord wusste das. Aber sein aristokratischer Name sprach schon davon, dass er solche Einwände nicht gelten ließ. Eine hässliche Szene würde folgen, die zu alldem schmerzhaft endete. Lord blieb hartnäckig in seinem Bestreben, mit den Jungen durch den Wald zu streifen, ihnen die Stöcke zurückzubringen, die sie über die Lichtung warfen. Wie wild sich Herr Roß auch gebärdete, Lord wartete auf die Jungs und den Ausflug.
Ihr Weg führte durch einige Nebenstraßen zur Unterführung, über der das Eisenbahngleis der Zeche verlief; unentwegt donnerten hier die Waggons vorüber. Lord, der vor dem kleinen Trupp herrannte, war beschäftigt. Alle Licht- und Telegraphenmasten wurden untersucht. Er roch und schnupperte, las die hinterlegten neuesten Hundenachrichten. Einige gefielen ihm nicht. Er knurrte. Sein Fell sträubte sich in einem schmalen Streifen vom Kopf bis zum gestutzten Schwanz. Ja, einige Nachrichten gefielen ihm wirklich nicht. Man schrieb das Jahr 1917. Der Nachbar Grabowski, den die Kohle und ein von einer Lore abgerissener Zeigefinger vor dem Schützengraben bewahrt hatten, sagte zum alten Roß: «Es wird immer beschissener an den Fronten. Bald klappt der ganze Dreck zusammen.» Seine Manchesterhose schlackerte traurig um die dürren Beine. Der alte Roß sah über seine altersschwache Brille nach Grabowski. Dann spuckte er aus. Das war alles, was er zur Lage an den Fronten zu sagen hatte.
Die Unterführung lag hinter ihnen. Sie bogen in einen Feldweg ein, der zu einem Wäldchen bei den Kläranlagen führte. Hier wurde das Abwasser der Kokerei gereinigt, ehe es in die Lippe floss. Das Wäldchen war der einzige grüne Ort, der Kindern und Tieren zugänglich war. Zumindest hatte noch keiner versucht, sie aus diesem Paradies zu vertreiben, der Krieg hatte zu viele strebsame Beamte in die Schützengräben Belgiens, Frankreichs und Russlands geworfen … Für die vier Jungs, den Hund und die Ziege war das Wäldchen ein Stück Freiheit. Der Gestank der Kläranlagen kümmerte sie nicht. Die Ammoniak- und Naphthalindämpfe, gemischt mit Koks- und Teergasen, lagen täglich über der Bergarbeitersiedlung.
Lorenz öffnete für einen Moment die Augen. Richtig, er war nicht mit den Freunden unterwegs, er war auch kein Junge mehr, und von einem Wald konnte man in dieser Ödnis aus Eis und Schnee nur träumen. Dennoch fand er seine Lage, hier in der Banja, gar nicht so schlecht. Er schielte zum Nachbarstuhl. Der Armenier hatte gerade die erste Bahn Schaum abgestreift. Es würde dauern, bis der Mann rasiert war. Also noch Zeit, um in die Erinnerungen zurückzukehren.
Lotte, die Ziege, verrenkte ihren Hals. Sie hieß tatsächlich so wie seine spätere Frau, das sollte stets für viel Spott und Neckerei zwischen ihnen sorgen. Und Lotte hatte nur eines im Sinn. Noch bevor der kleine Trupp in den Wald einbog, mussten sie an einem Roggenfeld vorbei, das Großbauer Berkel gehörte. Täglich litt Lotte an dieser Stelle Tantalusqualen. Der Roggen war schon in die Ähren geschossen, die jungen Körner schmeckten milchig und süß. Durch die lange Nacht hungrig geworden – das Spülwasser am Morgen hatte diesen Zustand nicht wesentlich verbessert –, versuchte Lotte, im Vorbeigehen einige dieser Leckerbissen zu erhaschen. Im Grunde hatten die Jungs nichts dagegen, aber Bauer Berkel war ganz anderer Meinung, und es gab Ursache, diese andere Meinung zu respektieren. So wie Bauer Berkel sein Eigentum liebte, eine solche Wucht erlangten seine Maulschellen. Das sommersprossige Gesicht, die borstigen Haare auf westfälischem Schädel, der grobe Knochenbau, all das flößte den dünnbeinigen Kindern Schrecken ein.
Bauer Berkel kannte keinen Hunger. Er aß sich täglich viermal satt. Daran änderte auch der Krieg nichts. Er trug seine strotzende Gesundheit mit einer solchen Frechheit zur Schau, dass sie in der allgemeinen Umgebung von Hunger, Unterernährung und Elend wie eine Provokation wirkte. Egal, wie es an den Fronten stand, für ihn hatte der Krieg seine guten Seiten. Ein Sack Weizen zur rechten Zeit angeboten, brachte eine Menge Geld.
Die Jungen ließen den gefährlichen Abschnitt hinter sich. Lotte hatte nichts außer ihrem Speichel geschluckt. Das war gut so. Lord, der vorausgegangen war, schlug plötzlich an. Aus einem Versteck im Gebüsch kam
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