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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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Hocker, auf dem er gerade noch gesessen hatte, in den Rücken. Ein stechender Schmerz ließ Lorenz zusammenzucken, er drehte sich blitzschnell um und schlug, ohne auch nur zu schauen, mit dem Schlosserhammer zu.
    Nun lag der Kerl mit einem Loch im Kopf in einer Blutlache. Er hatte offensichtlich vergessen, dass der Mechaniker zwar nicht kräftig von Statur, aber flink mit dem Hammer war. Die Urki reagierten verwirrt. Mit Gegenwehr hatten sie nicht gerechnet, sie widersprach allen Erfahrungen mit den Politischen.
    «Einen Schritt weiter, und der Nächste legt sich dazu», knurrte Lorenz.
    Trotz ihrer lauten Flüche und ihrer Drohgebärden, die Kumpane des Verletzten wagten es nicht anzugreifen. Selbst mit einem Messer hätten sie gegen den Hammer kaum eine Chance. So standen sie Angesicht zu Angesicht, und keiner rührte sich. Dann zischte der Ataman einem der Kartenspieler etwas zu. Der sprang zur Tür und verschwand. Lorenz war überzeugt, er würde die Sanitäter holen. Aber als er zurückkam, waren es zwei Wochra-Soldaten, die ihn begleiteten. Sie schauten auf das Blut, den stöhnenden Mann am Boden und auf die Gefangenen.
    «Mechaniker, warst du das?»
    «Ja, aber …»
    «Kein Aber. Gib sofort den Hammer her und komm mit.»
    «Der hat mich …»
    «Was der hat oder nicht hat, entscheidet der Kommandant.»
    Vergeblich versuchten die Politischen, den Wachleuten begreiflich zu machen, was passiert war. Die Soldaten hörten nicht zu. So gingen sie zu dritt in die Dunkelheit hinaus, während die Urki den Verletzten ins Lazarett schleppten.
    Auf dem Weg zur Lagerleitung überlegte Lorenz, wie er sich verhalten sollte. Sicher, es war eine Art Notwehr. Aber würde der Lagerchef das gelten lassen? Das meiste sprach gegen ihn. Er war Deutscher, Trotzkist, Agent und weiß der Teufel was noch. Also so gut wie vogelfrei. Und die Kriminellen hatten ihre Sicht der Ereignisse den Wachen längst verabreicht. Als Journalist wusste er: Die erste Information sitzt immer am tiefsten und lässt sich nur noch schwer korrigieren. Seine Lage war denkbar schlecht, Todesurteil nicht ausgeschlossen. Das gab es für «Feinde des Volkes» schon bei weit geringeren Vergehen.
    Eigentlich war den Oberen das Leben eines Gefangenen gleichgültig. In Workuta starben täglich Menschen an Entkräftung, an Unterernährung, an Misshandlungen. Und wenn dieses Sterben auf die Rechnung der Lagerleitung, des NKWD oder der Wachmannschaften ging, krähte kein Hahn danach. Von einer Untersuchung ganz zu schweigen. Eine ganz andere Sache war es, wenn ein Politischer zuschlug.
    Immerhin, der NKWD-Leutnant, der das Verhör führte, verließ sich nicht allein auf die Aussagen der Urki und des Mechanikers, sondern befragte weitere Zeugen aus der Baracke. Auch Gustav. Als Lagerkoch war er so etwas wie eine Respektsperson, und da er dem Offizier öfter sein Lieblingskompott, eine Grütze aus Moosbeeren, verabreichte, hatte der zu ihm ein gewisses Zutrauen.
    Gustav kam ebenfalls aus Deutschland. Sein Konditorberuf hatte ihm den Posten in der Küche eingebracht. Sanftmütig und ängstlich von Charakter, galt der kleine, dürre Mann mit Vollglatze als harmlos. Dennoch war ihm eine große Macht gegeben. Er entschied, ob sich die Suppenkelle ganz voll, halb voll oder fast leer in eine Schüssel senkte. Und da Gustav den Häftlingen lieber mehr als weniger auftat, war er ein allseits beliebter Mann. Politik interessierte ihn nicht sonderlich, man konnte sich nur wundern, wie so einer als Verschwörer in den Norden kam. Doch das war ganz einfach. Bereits in den zwanziger Jahren ging er aus Deutschland in den Kaukasus, wo er unweit von Tiflis in einer deutschen «Hühnerkommune» seinen Beitrag zum Aufbau des Kommunismus leisten wollte. Einer Kolchose, die sich auf Geflügelzucht spezialisiert hatte. Deutsche Dörfer gab es in der Gegend schon seit Generationen. Die ersten Siedler ließen sich in Georgien nieder, weil sie am Tag des Weltuntergangs nahe am Berg Ararat sein wollten, und der lag um die Ecke.
    Die Brigade, in der Gustav arbeitete, machte einen Ausflug in die Hauptstadt. In Tiflis lief gerade eine mit viel Propagandarummel angekündigte Ausstellung zum Wirken des großen Stalin im Kaukasus. Natürlich fanden sich einige, die das unbedingt sehen wollten – ob aus echter Neugier oder dem Wunsch folgend, sich bei der Parteileitung einzuschleimen. Gustav jedenfalls winkte ab.
    «Geht nur. Ich habe für solche Sachen nicht viel übrig. Ist mir zu viel

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