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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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Kopf reicht nicht, da muss der ganze Kürbis ab. Ich wünschte, Sie hätten bei Ihrem Einsatz so ein Messerchen wie meins bei der Hand gehabt. Zack.»
    Er machte eine rasche Bewegung und hätte dabei fast die Nasenspitze des nächsten Kunden erwischt. Lorenz atmete tief. Die angestaute Luft schien mit einem Mal aus seinem Körper zu entweichen. Der Barbier war ein Krimineller «im Gesetz», also einer von der Gegenpartei. Weder im Gefängnis noch im Lager hörte die blutige Fehde zwischen den Syndikaten auf. Erst kürzlich war auf dem Nachbarschacht ein Dutzend «Hündischer», jeder bewaffnet mit einer scharf geschliffenen Feile, in eine Baracke ihrer Gegner eingedrungen. Sie wüteten so lange, bis alle in ihrem Blut lagen. Die Wachleute schauten zu. Als Verstärkung kam, war alles lange vorbei.
    An diesem Tag trieb Lorenz eine gewisse Eile, die Banja zu verlassen.
     
    Wieder der letzte Tag im Jahr. Dieses Mal kein Schneesturm, nur ein dunkler Frosttag. Der Beginn der großen Zählung verzögerte sich. Die Häftlinge machten ihre Späße: Garantiert fand der Lagerchef seine Wodkaflasche nicht, und ohne Schnaps könne der nicht zählen.
    Aber nein, Wodka war da. Ein Anruf aus der Zentrale hielt die Prozedur auf. Endlich warf der Offizier den Hörer auf die Gabel. Es folgte ein kräftiger Fluch. Jetzt konnte es losgehen, Gefangene zählen. Lorenz seufzte. Wieder diese endlosen russischen «K». Beim Buchstaben «L» hingegen ging es noch zügiger als sonst. Von den ursprünglichen fünf waren es noch drei.
    «Luch Go Fen», rief der Schreiber und wunderte sich, als Lorenz aus der Reihe trat. Er hatte sicher einen Chinesen erwartet. Der Mann war neu.
    «Mechaniker, bei deinem Namen bricht man sich ja die Zunge, ehe man die Buchstaben beisammenhat.»
    «Tut mir leid. Hab’s mir nicht ausgesucht.»
    «Schwatzt nicht», unterbrach der Kommandant.
    «Also, Ihr Paragraph?»
    «Paragraph 58 Punkt 4. Agent der internationalen Bourgeoisie.»
    Der Schreiber schaute in seine Papiere.
    «Kann nicht stimmen.»
    «Wieso kann das nicht stimmen? Erst letztes Jahr hat mir Ihr Vorgänger das diktiert. Was stimmt nicht?» Lorenz war verwirrt. Wieder hatte jemand an der Sache gedreht. Warum? Mit welchem Ziel? «Na, dann eben KRTD.»
    «Auch falsch.»
    «Und was ist in diesem Jahr richtig?»
    «Paragraph 58 Punkt 10!»
    «Punkt 10?!»
    Den hatten wir noch nicht, dachte Lorenz. Jedes Jahr eine neue Begründung, das bedeutete, der NKWD selbst wusste nicht, warum er eigentlich inhaftiert war. Immerhin, den gefährlichen Unterpunkt des Paragraphen 58, «KRTD», hatte er verlassen. Als Trotzkist musste man immer mit dem Schlimmsten rechnen. Stalin verfolgte Trotzki unerbittlich bis in den Tod. Und der NKWD verfolgte all jene, die angeblich vom politischen Bazillus des Trotzkismus erfasst waren. Punkt 10 hieß, dass der Verurteilte zum Sturz der Sowjetmacht aufrief oder verbotene Literatur verbreitete. Das war nicht weiter schwer. Die Bibliotheken kamen nicht nach, die Bücher all jener zu vernichten, die gestern noch hochdekoriert und heute schon hingerichtet waren. Historische Fotos mussten ständig retuschiert werden, um die in Ungnade Gefallenen verschwinden zu lassen.
    Lorenz kehrte an seinen Platz in der Reihe zurück, wo ihn Sascha Bauer freudig begrüßte:
    «Mensch, Mechaniker, da hast du wieder Dusel. Punkt 10. Wenn es so weitergeht, wirst du noch vorfristig entlassen!»
    Sascha lachte. Vorfristig war eine Vokabel, die in Workuta eigentlich nicht vorkam.

Das Jahr 1941:

    Ausweisfoto von Paula Lochthofen. Unterlage: Kajetan Klugs Originalbrief vom 8. August 1941.

Deutsche Truppen landen unter Rommel in Afrika. Das Patent für Teflonbeschichtung wird erteilt. Zuse baut den ersten Computer. Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion fordert in vier Jahren Krieg über 25 Millionen Tote. Der Auflösung der Autonomen Wolgadeutschen Republik folgt die Deportation Hunderttausender nach Sibirien. Das Tragen des «Judensterns» wird im Deutschen Reich Pflicht. In Babi Jar bei Kiew kommt es nach der deutschen Besetzung zu Massakern an Juden, bei denen 33   000 Menschen ermordet werden. Grundsteinlegung für das Pentagon. Die Japaner überfallen Pearl Harbor. Deutsche Truppen stehen 17 Kilometer vor Moskau. Brechts «Mutter Courage» wird in Zürich uraufgeführt.

1941

I
    Drei Stück Zucker fielen mit einem leisen Glucksen ins Glas, hielten einen kurzen Moment inne, glitten dann langsam zu Boden, wo sie zerfielen. Er rührte den

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