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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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Kult …»
    Das reichte. Der Satz brachte ihm fünf Jahre Lager ein.
    Genau diesen gefährlichen Umstürzler befragte der Offizier nun in der Angelegenheit des Mechanikers. Eigentlich war das Urteil längst gefällt, aber der Leutnant hatte Zeit. Da stand er nun, der Koch und Gutmensch Gustav, vor dem NKWD-Mann.
    «Gustav Gustavitsch, Sie sind ein besonnener Mann. Können Sie mir sagen, was in der Baracke passiert ist? Was hat den Mechaniker geritten?»
    Gustav nahm seine runde Nickelbrille von der Nase, die von der Kälte beschlagen war. Rieb die Gläser lange mit einem Stofffetzen, den er aus der Hosentasche gefischt hatte, betrachtete sie gegen die Lampe und antwortete mit einer Gegenfrage:
    «Genosse Leutnant, sind Sie Kommunist?»
    «Ja, natürlich bin ich das. Was hat das mit dem blutigen Zwischenfall zu tun?»
    «Wissen Sie, Genosse Leutnant, was Sie tun würden, wenn man Sie einen Faschisten nennen würde?»
    «Ich würde den Kerl totschlagen!»
    «Sehen Sie, nichts anderes hat der Mechaniker gemacht. Nur dass der Bursche am Leben geblieben ist und sich jetzt im Lazarett vor der Arbeit drückt. Lorenz Lorenzowitsch hat gegen die Faschisten gekämpft. Der weiß, was ein Faschist ist. Und da kommt dieser Schpana … verstehen Sie?»
    «Hmm, Faschist hat er ihn genannt?! Ach so …»
    Als Gustav die Lagerleitung verließ, blieb ein nachdenklicher Leutnant zurück. Ob er an Gerechtigkeit dachte oder an Moosbeerengrütze, wer wollte das schon sagen. Jedenfalls durfte Lorenz zu seinem Erstaunen wieder in die Werkstatt. Der Urka mit dem Loch im Kopf kehrte nach Wochen aus der Krankenstation in die Baracke zurück, wo ihn Lorenz mit dem vertrauten Hammer in der Hand empfing:
    «Ich sag dir nur eins, du hast Glück gehabt.»
    Der Bursche, der noch immer einen Kopfverband trug, schaute ihn entsetzt an.
    «Ich bin nicht nur Schlosser, ich bin auch Schmied. Und für gewöhnlich treffe ich besser. Glaub mir, wenn ich von dir auch nur einen Mucks höre, hat deine letzte Stunde geschlagen. Du weißt, den Hammer trage ich immer bei mir …»
    Es dauerte wenige Tage, und der Urka musste auf Etappe, an den Jenissej. Lorenz atmete auf. Denn so sicher war er sich nicht. Jeden Tag gab es gefährliche Situationen. Da half keine Erfahrung und kein Hammer. In der Nacht wachte Lorenz schweißgebadet auf. Er träumte, er hätte seinen Hammer in der Werkstatt vergessen. Oder das verlässliche Werkzeug wurde plötzlich leicht und biegsam, als wäre es aus Gummi. Jedes Mal, wenn er den Hammer hob, bog sich das Ding nach der Seite.
     
    Das Lagerleben war eine ununterbrochene Kette von Grausamkeiten und Gemeinheiten. Noch mehr, als es je ein Gefängnis konnte, reduzierte das Lager die Menschen auf ihre niedrigsten Instinkte. Die Wahrscheinlichkeit, die Tortur zu überleben, war derart gering, dass sie alles, was mit Anstand, Selbstachtung oder Mitleid verbunden war, schon auf dem Weg zu ihrem Zielort im Kot der verlausten Viehwaggons zurückgelassen hatten. Hier im Lager konnte man den Menschen nackt und bloß, ohne all sein zivilisatorisches Schmuckwerk, betrachten. So dünn der kulturelle Humus, so fließend der Übergang ins Stupide. Waren sie eigentlich noch Menschen?, fragte sich Lorenz oft. Schuften, Fressen, Scheißen, Schlafen, das waren die vier Zustände, auf die sich alles reduzierte. Wer diesen Kreislauf der Lagerelemente beherrschte, konnte sich Hoffnung machen. Auf den nächsten Morgen. Viel weiter dachte keiner.
    Aber dann gab es ja noch, welch Wunder, den Banja-Tag, eines dieser unerklärlichen Dinge im großen Sowjetreich, wie der Zahnarzt für die Häftlinge in der Saratower Todeszelle. Nach einer Zehn-Tage-Arbeitswoche hatten sie frei für die Sauna. Das galt nicht nur für die Lagerleitung oder die Wachleute. Nein, auch für die Häftlinge. So hoffte man, der Wanzenplage irgendwie Herr zu werden. Der primitive Holzschuppen mit seinem aus Findlingen gelegten und bis zum Glühen erhitzten Ofen, den roh gezimmerten Bänken, den Zinkschüsseln mit kaltem Wasser, zu denen man sich tief hinunterbeugte, um kühle Luft zum Atmen zu bekommen, den Besen aus Birkenreisig, die den heißen Körper betröpfelten – alles in allem eine primitive Einrichtung, aber für die Häftlinge war es die Herrlichkeit. Einmal in der Woche konnte man sich den Dreck vom Leib schrubben. Einmal in der Woche wurden die Knochen durchgewärmt. Einmal in der Woche gab es frische Wäsche. Wie bei richtigen Menschen. Wer wollte, konnte sich sogar

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