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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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Tee nachdenklich um. Heißer bernsteinfarbener Tee, der zart dampfte und in dem überfüllten Abteil des Zugs Kotlas – Moskau ein längst vergessenes Gefühl der Behaglichkeit verströmte. Die Schaffnerin, ein Bauernmädchen mit roten Haaren und ansteckendem Lachen, warf spielerisch noch ein paar Stückchen Raffinade auf den Klapptisch am Fenster. Sie trällerte schon vom Gang her, wenn noch etwas gebraucht würde, wisse man ja, wo sie zu finden sei.
    Pawel Alexandrowitsch schaute aus dem Fenster. Er sah Grün. Unendlich sattes, tiefes Grün der Wälder. Dieses Grün gab es nur im Norden. Nein, nicht dort, wo er herkam. Das war nicht der Norden, das war die Arktis. Dort gab es so gut wie gar nichts. Allenfalls zerzauste Sträucher. Ein von Kälte und Winden verkrüppeltes Land, so weit das Auge reichte.
    Norden, das war hier. Ein solches Fest in Grün, das kannte der Süden nicht. Birken folgten Kiefern, Kiefern folgten Eschen, Espen, Tannen, Fichten und wieder Birken und Kiefern. Und dann die Luft, klar und frisch wie Kristall. Fast schien es so, als sei die Welt nur aus diesem Grün erschaffen.
    Weiß, Weiß kam hier allenfalls als einzelne Wolkenfetzen am strahlenden Junihimmel oder als kleiner Strich eines Birkenstamms vor. Und da war noch das Kopftuch der Bahnwärterin, die aus ihrem Haus gerannt kam, um das Fähnchen zu schwingen, wann immer der Zug freie Fahrt begehrte.
    Freie Fahrt …
    Er buchstabierte die beiden Wörter. Langsam. Ganz so, als müsste er sie erst wieder lernen.
    Freie Fahrt …
     
    Auf dem Bahnhof in Kotlas hatte er für ein paar Kopeken eine Postkarte gekauft. Ein Stück grauen Kartons. Auf der einen Seite bedruckt mit dem üblichen Wohin und Woher, auf der anderen Seite der Platz für den Text. Am Schalter der Bahnpost waren sie freundlich. Er bekam sogar ein Tintenfass und einen Federhalter durch das kleine Fenster gereicht. Man verstehe es schon, dass Menschen die von dort kamen, ein Bedürfnis zum Schreiben hätten. Das dort klang wie aus einem fremden Land. Von dem man viel gehört, aber das man selbst nie gesehen hatte.
    Eine ferne Insel.
    Ja, eine Insel. Anders konnte es auch gar nicht sein. Eine Insel fern aller Zivilisation. Weit weg von aller Menschlichkeit. Er kam von einer Insel, kein Zweifel. Sogar sein Weg dorthin führte über das Meer.
    Sie wurden damals im Hafen von Archangelsk auf einen rostigen Kahn verfrachtet. Aus dem Weißen Meer ging es in die Barentssee, von dort bis zur Insel Waigatsch und dann durch die Tundra zu Fuß bis an die Workuta. Die ersten Tage auf dem Schiff verliefen ruhig. Doch am fünften oder sechsten kam Unruhe auf. Wo sie ihren Anfang nahm, wusste er nicht. Erst flüsterte es, dann schwoll es an, dann schrien sie immer aufgeregter. Erst einer, dann zwanzig oder dreißig, dann mehr. Sie wollten alles, wollten alles ganz genau wissen. Die Küste Norwegens sei nicht weit, und wenn sie jetzt die Brücke stürmten und die Wachleute über Bord warfen, könnten sie es schaffen.
    «England wartet darauf, uns Asyl zu geben. Wer will, kann auch nach Amerika», ereiferte sich ein Muschik, seiner Aussprache nach stammte er aus dem Ural.
    «Was sollen die in England mit dir? Du kannst ja nicht einmal richtig Russisch», erwiderte ein Mann in leichtem Sommeranzug.
    Schon wenn man die beiden sah, war klar, dass sie niemals auf einen Nenner kommen konnten. Der Mann im Leinenanzug mochte vor seiner Verhaftung Professor an der Universität oder hoher Beamter in einem Kommissariat gewesen sein. Trotz erlittener Schikane behielt er Haltung. Ja, er blickte fast herablassend auf die Meuterer. Dennoch traute ihm Pawel Alexandrowitsch nicht zu, auch nur den ersten Winter im Lager zu überleben. Dort, im Norden, reichte es nicht aus, klug zu sein.
    «Das ist doch alles nur eine Provokation», mischte sich ein Dritter ein. Mit ihm hatte sich Pawel Alexandrowitsch wortlos verständigt. Sie mussten sich nur ansehen und wussten Bescheid: Beide waren nicht zum ersten Mal auf einem solchen Transport. Beide kannten das Lager.
    «Du bist selbst ein Provokateur. Du willst nur, dass wir in der Tundra krepieren und niemand da ist, der unsere Knochen in der Erde verscharrt … Also, was ist, wer macht mit?»
    Eilig hatte sich ein Pulk gebildet. Ein Wochra-Soldat schaute misstrauisch herüber, aber er konnte nichts verstehen. Der Wind trieb die Worte davon. Als er sich umdrehte, ging der Streit weiter.
    «Natürlich ist das eine Provokation», ließ der Mann mit Lagererfahrung

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