Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
gegen ein paar Rubel, die man aus einem anderen Leben gerettet, getauscht oder gestohlen hatte, rasieren lassen.
Lorenz genoss diese Zeit in der Banja wie einen hohen Feiertag. Der Herr über das Reich dampfender Kessel und grob gehackter Kernseife war in ihrem Lager ein Armenier. Ein Ataman und Freund des Volkes. Es hieß, er habe auf einem Moskauer Markt am großen Rad gedreht. Manche meinten sogar, er sei einer von jenen sowjetischen Untergrundmillionären, über die man auf den Basaren zahllose Legenden erzählte. Eines Tages gab es eine Messerstecherei, und ab ging’s nach Workuta, wegen mehrfachen Mordes. Aber seine Kontakte reichten immer noch so weit, dass er den Posten in der Banja bekam. In den Schacht musste der nicht.
Doch auch die Welt eines Sauna-Meisters war nicht frei von Sorgen. Er hatte lange mit sich und der Menschheit gehadert, weil er nirgends ein Rasiermesser auftreiben konnte und so sein Geschäft gefährdet sah. Den Häftlingen wurde ihr Rasierzeug bei der Verhaftung abgenommen, und die Lager-Banjas mit Rasiermessern auszustatten fiel in Moskau keinem ein. So rasierten sich einige mit Glasscherben. Dementsprechend sahen ihre Gesichter aus. Dann kam Lorenz und schlug dem Armenier einen Handel vor: Er, Lorenz, werde ihm ein paar ordentliche Rasiermesser machen im Austausch gegen eine für alle Zeiten unentgeltliche Sauna-Benutzung de luxe. Das hieß: frische Handtücher – keine von fünf Häftlingen vorher –, bessere Seife, eigener Schwamm und Schipr Eau de Cologne nach der Rasur.
Unter den Bedingungen Workutas war es fast unmöglich, brauchbares Material für eine Klinge zu finden. Erst nach mehreren Anläufen erwies sich der Stahl eines schwedischen Kugellagers als annehmbar. Noch schwieriger gestaltete sich das Schmieden und Schleifen, das viel Zeit und noch mehr Geschick verlangte. Nicht zuletzt deshalb, weil sich Lorenz daranmachte, gleich ein ganzes Dutzend Messer herzustellen. Sollte die Sache klappen, versprach sie ein gutes Geschäft. Zwei, drei Flaschen Wodka konnte man pro Messer verlangen. Schnaps war die beste Währung, die man sich zwischen dem 1. und dem 8. Schacht denken konnte.
Die Klinge hatte er, nun ging es um den Griff. Weder Elfenbein noch Horn stand zur Verfügung. Eine Zeitlang hoffte er, von den Rentierzüchtern etwas Fischbein oder ein Stück Mammutzahn zu bekommen, aber die hatten selber nichts. So musste er sich mit Holz begnügen. Fichte, Kiefer, Birke kamen nicht in Frage. Viel zu weich. Eiche oder Buche waren hart genug. Doch woher so etwas nehmen, hier hinter dem Polarkreis? Improvisation als Lebensretter des Sozialismus. Ohne das Talent Tausender Menschen, praktisch aus nichts noch etwas Annehmbares zu machen, wäre das Sowjetland längst zusammengebrochen. Für Lorenz bestand dieses Nichts aus einem Wagenrad. Es war aus Buche und stammte aus einer Zeit, in der man auf Qualität gewissen Wert legte, es war sehr alt. Nun musste es eine Speiche abgeben.
Der Barbier zeigte sich zu Tränen gerührt. Begeistert wie ein kaukasischer Säbeltänzer fuchtelte er mit den beiden ihm zugedachten Rasiermessern herum.
So saß Lorenz nach einem ausgiebigen Dampfbad auf einem der Stühle im Vorraum der Banja, vom Hals abwärts eingehüllt in einen Umhang aus weißem Laken. Entspannt hörte er zu, wie der «Parikmacher» – die Russen gebrauchten für Frisör immer noch das schöne deutsche Wort – hinter seinem Rücken die Klinge an einem Abziehriemen wetzte. Er hatte Zeit. Noch war ein Kunde vor ihm.
Lorenz schloss die Augen und wähnte sich daheim im Frisörladen seines Onkels. All die Schalen, Dachshaarpinsel, die Seifen und Flakons mit den Rasierwassern, schon als Junge faszinierte ihn diese Welt; er konnte es nicht erwarten, endlich auf einem dieser Sessel Platz zu nehmen … Er dachte an seine Mutter, an die Armut zu Hause. Die fand er jetzt gar nicht mehr so schlimm. Im Gegenteil, es ging ihnen nicht schlecht. Geborgenheit, jawohl, das war das richtige Wort für seine Kindheit in Sichtweite der Zeche. Er dachte an den langen, hohlwangigen Prinz, auch Prickel genannt, an Jupp Klenz, den Freund aus der Nachbarschaft, dessen Vater ein Deutschungar war, und an Erich, seinen jüngeren Bruder. Und daran, wie sie am Morgen auszogen, das Abenteuer zu suchen.
Ihre Ziege wartete schon. Auch Nachbars Lord war voller Ungeduld. Ein kluger Dobermann, ergeben und dienstbereit, wie nur Hunde sein können. Lord stand an einem Loch im Zaun hinter dem Holunderbusch. Sie
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